Ein auf Youtube höchst populärer Ausschnitt aus der US-Soap „Boston Legal“. Der Anwalt Alan Shore argumentiert gegen die Wertschätzung von Religion: „Wann hat Religion überhaupt so einen guten Ruf bekommen? Seien es die Kreuzzüge, die Unruhen in Nordirland, Massenmorde angeblich im Namen von Allah und dann natürlich jeweils der unvermeidbare Gegenschlag. Hunderte von Millionen von Menschen sind in religiösen Konflikten gestorben.“
Ja, und? Vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber hat es denn die Kreuzzüge nicht gegeben? Und den Dreißigjährigen und all die anderen Kriege im Namen der Religion? Sicher, die gab es. Gegenfrage: Was folgt daraus? Antwort: Gar nichts.
Wieder mal ein Fall von „Weiß doch jeder“
Zunächst einmal sind die Behauptungen in diesem Zitat von vorneherein maßlos übertrieben, wie man auch immer zur Religion steht (oder gegen sie). „Hunderte von Millionen“ bedeutet mindestens 200 Millionen und soviele Opfer bekommt man selbst dann nicht hin, wenn man alle Kriege der Weltgeschichte zusammen zählt. Deshalb könnte man diese Sprüche von vorneherein als irrelevant ansehen, wenn sie sie nicht als dunkles Vorurteil, als „Wissen“ im Hintergrund unseres Bewusstseins herumtreiben würden. Sichtbar wird dies an den Kommentaren auf Youtube zu dem Video. Augenblicklicher Zählung nach sind es 593 und keiner von ihnen bestreitet diese Wahnsinnszahlen, auch eifrige Christen nicht, bisweilen werden sie sogar als Tatsache aufgegriffen. Also: Jeder „weiß“, dass unglaublich irrsinnig viele Menschen in Religionskriegen umgekommen sind.
Was ist ein Religionskrieg?
Definitionen sind gleich zur Hand, z.B. dass es ein Krieg ist, der ohne Religion nicht geführt worden wäre. Nun schlugen die alten Römer keine Schlacht, wenn nicht zuvor die heiligen Hühner, die jede Legion mit sich führte, das angebotene Futter verzehrten. Trotzdem wird vermutlich niemand die nachfolgenden Massaker als Religionskriege bezeichnen, nur weil die heligen Hühner mit ihrer Fresslust das Zeichen zum Angriff gegeben hatten. Zunächst einmal gibt uns das Zitat aus Boston Legal einen Wink: Kreuzzüge, Reformation, Norirland, Allah, aus diesen Stichworten können wir ableiten, dass richtige Religionskriege vor allem da stattfinden, wo einer der Monotheismen die Hand im Spiel hat, und darunter vorzugsweise das Christentum. Und, so lautet die These, das ist ja auch kein Wunder, schließlich ist das eine intolerante Religion, die keine andere Wahrheit anerkennt und deshalb alle Andersgläubigen mit Krieg überzieht, im Unterschied etwa zum toleranten Polytheismus und zu unserer eigenen säkularen Kultur. Diese scharfsinnige Argumentation wird meist ergänzt um die freudige Nachricht, dass die Kultur der Neuzeit diese blutrünstigen christlichen Glaubenskrieger unter zivile Kontrolle gebracht hat und dass dadurch die alten finsteren Zeiten, zumindest in unseren Breiten, der Vergangenheit angehören.
Die historische Probe
Sollte diese These stichhaltig sein, müsste sie sich in die folgenden geschichtlichen Fakten übersetzen lassen: Nach der Etablierung des Christentums in einen Kulturkreis müssten dort die Angriffskriege zunehmen. Zusätzlich müsste sich diese Tendenz desto klarer zeigen, je jünger diese Religion ist, also je näher an den Wurzeln ihres intoleranten Wesens und je weniger sie mit der Zeit abgeschliffen und durch die Einflüsse ihrer Umgebung verwässert wurde.
Noch einmal zur Klärung
Es geht nicht darum, ob die Vertreter einer Religion Weihwasser auf Kanonen geschmiert oder die blutigen Feldzeichen gesegnet haben, die über so vielen sinnlosen Massakern der Weltgeschichte geflattert sind. Das alles ist geschehen und all das war eine moralische Katastrophe für das Christentum. Aber das ist nicht, worum es hier geht. Es geht noch nicht einmal darum, ob dieser oder jener Krieg aus religiösen Gründen geführt wurde. Detailbetrachtungen dieser Art sind immer unsicher, wie sich noch erweisen wird, wenn ich einzelne Fälle betrachte. Es geht darum, ob sich eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür abzeichnet, dass das Christentum als Ganzes die Welt unterm Strich aggressiver gemacht hat. Und dafür sind genau die Kriterien maßgeblich, die ich im vorhergehenden Abschnitt erläutert habe.
Kurz und Gut
Das offensichtliche Ergebnis der Anwendung dieser Kriterien lässt sich in wenigen Sätzen abhandeln: Kulturen führen nicht mehr Kriege nach der Einführung des Christentums, Völker außerhalb des christlichen Einflusse führen nicht weniger Kriege und Kriege nehmen nicht ab, wenn der Einfluss dieser Religion nachlässt. Die Eroberungsfeldzüge der alten polytheistischen römischen Republik waren ebenso unablässig wie brutal. Im Mittelalter waren Kriege außerhalb des christlichen Abendlands ebenso häufig wie innerhalb. Und nach der Säkularisation Europas, nach dem Aufsteigen der Nationalstaaten, begann das soldatische Metzgerhandwerk erst richtig aufzublühen.
Details
Damit wäre der Fall eigentlich bereits abgehakt. Trotzdem sind die säkularen Reflexe (Kreuzzüge, Dreißigjähriger Krieg) so tief in die üblicher Halbbildung eingefressen, dass ich mich noch einmal mit ein paar von ihnen befassen möchte.
Die Kreuzzüge
Scheußlicher Höhepunkt dieses Krieges war ohne Zweifel das Massaker bei der Eroberung Jerusalems im ersten Kreuzzug. Bevor man sich aber in Tiraden über religiösen Fanatismus ergeht, sollte man sich daran erinnern, dass diese Kampagne zum größten Teil von französischen Rittern getragen wurden, also von der normannischen Oberschicht Frankreichs. Und dass dies die Nachfolger der Wikinger waren, dieses mörderischen Raubgesindels, das solche Eroberungen mit anschließenden Metzeleien an Zivilisten bereits über Jahrhunderte ausgeführt hatte, ohne dass sich heute jemand noch groß daran stören würde. Ganz im Gegenteil gibt es jetzt lustige Filme über den lustigen kleinen Wiki bei den lustigen Wikingern.
Die Reformation
Es genügt, wenn ich auf zwei populäre Beispiele für Auseinandersetzungen im Umkreis der Reformation eingehe: Die spanische Armada und der dreißigjährige Krieg. . (Leider habe ich keine Ahnung, wo Alan Shore im Eingangszitat seine „Völkermorde“ herkriegt, deshalb nehme ich mal diese beiden.)
Der Angriff der katholischen Armada auf das protestantische England und ihr Untergang in einem Sturm wurde zu einer göttlich-globalen Entscheidung überhöht: „Deus afflavit, et dissipati sunt“, also „Gott blies sie an und sie wurden zersprengt“. Und so blieb er im Gedächtnis. Was nicht im Gedächtnis blieb, sind die bald darauf mit furchtbarer Erbitterung geführten Seekriege zwischen England und Holland, beides protestantische Mächte, wobei England sich problemlos mit dem katholischen Frankreich verbündete. Es ging hier, ebenso wie beim Kampf Spanien gegen England, um die Beherrschung der Meere. Das religiöse Thema gab dazu eine nette Filmmusik ab, aber ihr Fehlen machte keinen Unterschied.
Der Dreißigjährige Krieg wurde vom Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten befeuert, seine verheerende Dauer entstand aber aus der Einmischung des katholischen Frankreich, das alles unternahm, um dem katholische Herrscherhaus Habsburg zu schaden und das deshalb die protestantische Fraktion in Deutschland unterstützte. Zu Beginn durch die Finanzierung der Invasionen von Dänemark und Schweden, zuletzt durch den Einsatz eigener Truppen gegen das spanische Heer (der Abschluss des Krieges war die Schlacht von Rocroi, in der die französische Kavallerie die tercios zersprengte, die berühmten Pikengevierte des habsburgischen Spaniens.)
Die eher untergeordnete Rolle der Religion im dreißigjährigen Krieg lässt sich auch am Personal ablesen (von oben nach unten):
- Kaiser Franz Ferdinand und Gustav Adolf waren tief religiöse Menschen, was sich auch in ihren Kriegszielen niederschlug
- Kurfürst Maximilian von Bayern (der Hauptkriegstreiber) und Kardinal Richelieu waren beide gläubige Katholiken, führten aber den Krieg sehr weltlich und pragmatisch
- Wallenstein war religiös indifferent – persönlich und politisch
Die große Chuzpe
Was mich aber auf meine alten Tage immer noch fassungslos macht, ist die absolut bewusstlose Selbstzufriedenheit, mit der sich die Barden unserer säkularen Kultur auf die Schulter klopfen nach dem Motto: Super, dass wir die Religionskriege abgeschafft haben. Zur Erinnerung: Organisatorischer Träger unserer Moderne ist der Nationalstaat und unter seinen Feldzeichen wurden Massaker veranstaltet, die alles in den Schatten stellen, was das Mittelalter aufzubieten hatte, der süße uniformierte Tod für das Vaterland und all so was. Immer noch werden bei Fußballmeisterschaften begeistert die Hymmnen gesungen, zu deren Klängen die Schlächterei der Weltkriege veranstaltet wurden. Und alle singen mit, z.B. die Marseillaise: Marchons, q’un sang impur abreuve nos sillons, also: Laßt uns marschieren, auf dass ein unreines Blut unsere Schollen bespritze.
Menschen sind sonderbar.
Der nächste Post hat den Titel „Neulich auf dem Stehempfang“. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie den Newsletter. Ursprünglich hatte ich hier den „Brief eines Atheisten“ angekündigt, aber ich muss den Verfasser noch überreden, mir die Erlaubnis zur Veröffentlichung auf diesem Blog zu geben.
Zwei Anmerkungen:
1. Der youtube-Link funktioniert nicht. Da ist ein „http//“ zu viel, wenn ich richtig sehe,
2. Nach meiner Erfahrung werden die Kriege der Moderne ebenfalls unter die Religionskriege gefasst, wie auch beim Boston Legal Ausschnitt Hitler genannt wurde. „Argumente“ sind hier das „Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern der Wehrmacht, sowie die Zugehörigkeit Hitlers zur Kirche und ein angebliches Einvernehmen zwischen beiden, erkennbar an Konkordat und Kollaboration der Mehrheit der evangelischen Landeskirchen. Die Gegenüberstellng moderner Nationalstaat – religiös begründeter mittelalterlicher Staat müßte daher wahrscheinlich stärker beründet werden. Man bedenke auch das Gottesgnadentum der „Protagonisten“ des 1. Weltkrieges…
Danke für den Tipp mit dem Link.
Tja, und ich finde es sehr anstrengend, mich zu den anderen Sachen zu äußern. Ich würde da gerne einfach noch einmal auf den Abschnitt „Zur Klärung“ hinweisen. Die Frage ist doch die, ob z.B. der erste Weltkrieg ohne das Christentum nicht stattgefunden hätte. Und wer das glaubt, hat ein so verqueres Geschichtsbild, dass mit dem Betreffenden einfach nicht zu argumentieren ist. Die Österreicher haben deshalb diese unannehmbaren Punkte in ihr Ultimatum an Serbien eingebaut, weil sie rüstungsmäßig gegenüber Russland immer mehr zurückfielen und sie dies als ihre letzte Chance ansahen, die als unvermeidlich angesehene Konfrontation mit dem Zarenreich noch zu überstehen. Das „Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern ihrer deutschen Verbündeten hatten damit gar nichts zu tun.
Und Hitlers Gott. Oh je. Das ist wieder einmal eins von diesen Cut-and-Paste-Argumenten, die sich im Internet verselbstständigt haben, ohne dass jemand das irgendwie geprüft hätte. Ich habe mir wirklich einmal die Arbeit gemacht und „Mein Kampf“ nach diesen berüchtigten Berufungen auf den christlichen Gott durchgesucht. Gefunden habe ich das Wort „Gott“ drei oder vier Ma verstreut in dem ganzen Buch; möglicherweise ist mir das eine oder andere Zitat durch die Lappen gegangen. Und jedes Mal war es aus dem Zusammenhang klar, dass „Gott“ hier eine traditionelle Chiffre für das Zentrum der hitlerschen Philosophie war, nämlich der Natur als der „grausamen Königin aller Weisheit“, die den Verdrängungskampf um jeden Preis lehrt.
<blockquote>Und wer das glaubt, hat ein so verqueres Geschichtsbild, dass mit dem Betreffenden einfach nicht zu argumentieren ist.</blockquote>
Und ich denke, hier liegt der Hase im Pfeffer begraben, jedenfalls bei denjenien, auf die „weiß doch jeder“ zutrifft.
Das Gleiche gilt für „Gott mit uns“ und Hitlers Gott. Diejenigen ohne verqueres Geschichtsbild versteigen sich eher selten in derartige Geschichtsumdeutungen, jedenfalls nach meiner Erfahrung.
Und noch was Anderes, lieber Bundesbedenkenträger: Haben Sie überhaupt gesehen, dass ich die von Ihnen gewünschte Benachrichtigungsfunktion eingebaut habe? Alles im Dienste des Kunden …
Ja, ich habe es gesehen, und nutze es auch. Herausragend aus all den anderen Blogs ist die Möglichkeit, eine Diskussion per Mail verfolgen zu lassen, ohne selbst daran teilgenommen zu haben. Vielen Dank für diesen „Kundenservice“ 😉
Wie ich sehe, haben Sie auch die Bttons für fetten Text etc umgesetzt. Dies wird (vermute ich mal) der Grund sein, wieso der <blockqote> Tag in meinem obigen Kommentar als Text interpretiert wird…
Inzwischen kam auch Ihr Buch an und ich konnte die ersten Seiten lesen. Der Einstieg war interessant (und ganz anders, als erwartet), jetzt bin ich gespannt, wie es weitergeht.
Freut mich, dass zumindest der Start gut war. Ich habe bei der Seite „Das Buch“ die Kommentare freigeschaltet. Vielleicht will ja jemand was dazu sagen/meckern/loben.
Schön zu lesen! Ich bin über Michael Blume auf Sie aufmerksam geworden. Ein wirklich angenehm sachlicher Tonfall.