Die Persönlichkeit von Papst Benedikt, vormals Kardinal, vormals Theologieprofessor Ratzinger, weist einige faszinierende Facetten auf, die sie in gewisser Weise einmalig macht. Gewiss, ein Papst muss immer gläubig sein, aber bei den meisten Christen und auch bei seinen Vorgängern hat dieser Glaube etwas Organisches, ein Zusammenspiel unterschiedlicher Komponenten, die sich mit dem Leben und Erleben des Menschen mit entwickeln. Papst Benedikt hingegen hat im Zentrum seines Glaubens eine absolute, abstrakte, sozusagen objektiv wissenschaftliche Überzeugung, die er aufgrund seiner theoretischen Neigung und Vorbildung auch klar formulieren kann.
Nun sollte man annehmen, dass seine Gedanken und Taten klar sichtbar um dieses unabänderliche Zentrum kreisen, berechenbar wie die Bahnen von Planeten um einen Stern. Das tun sie aber nicht, es scheint irgendwo in diesem System eine Zusammenballung von dunkler Materie zu geben, die diese Bahnen beeinflusst und verzerrt. Nur bei manchen Gelegenheiten, in einzelnen Aussagen des Papstes, wird diese dunkle Materie sichtbar und mit ihr die komplexe und beunruhigende Dynamik der Gedankenwelt dieses Führers des größten Teils der Christenheit.
Die Schlachtordnung
Seit seinem Amtsantritt hat Benedikt XVI. den Gegner identifiziert, gegen den er im Namen seines Amtes anzutreten hat: Es ist die „Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt“ und die notwendig dahin führt, dass man „als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt“. Der Gegenentwurf dazu ist „einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben“. Dieses Credo der Kirche ist aber für ihn nicht einfach eine nicht hinterfragbare Setzung von oben (das ist eben wahr, und damit basta), sondern wurzelt in einem tieferen Verständnis des gesamten Universums. Dieses Verständnis war, seiner Meinung nach, die zentrale Leistung und Identität Europas und ist, zu unser aller Unheil, untergraben und fortgespült worden.
In seiner Ansprache vom 22.09.2011 an den Bundestag hat er dieses Zentrum benannt: „Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden.“ Rom kann hier außer Betracht bleiben, die Achse Jerusalem-Athen ist für ihn die wichtigere.
Ungewöhnlich ist, dass er das Paar antike Philosophie/Christentum tatsächlich als Einheit sieht. Genauer gesagt: Diese beiden Partner haben sich folgerichtig aufeinander zu entwickelt und sind in ihrer Verschmelzung erst zu sich selbst gekommen.
Auf der einen Seite hat die antike Philosophie, zumindest in ihrer Haupttendenz, die Welt als vernünftig angesehen, genauer gesagt, nach Prinzipien der Vernunft geordnet. Denn: Eine unvernünftige, chaotische Welt könnte ich nicht mit meiner Vernunft begreifen. Aber erst in der Verbindung mit dem starken Monotheismus des Christentums ist eine hinreichende Kraft ins Spiel gekommen, nämlich Gott selbst, die als Schöpfer und Erhalter diese vernünftige Ordnung der Welt überhaupt erst einmal herstellen und garantieren kann.
Auf der anderen Seite hat erst die antike Philosophie dem Christentum die Begriffe geliefert, mit denen es sich selbst und seine Bestimmung verstehen konnte. Das ist insbesondere der Begriff des „Logos“, der eben diese universale Vernunft meint. Das Jesusbuch des Papstes zeigt dies klar: Der Ausgangspunkt, um Jesus zu verstehen, ist für ihn der Prolog des Johannesevangeliums („Am Anfang war der Logos und der Logos war bei Gott und Gott war der Logos“). Dieser Logos ist identisch mit Jesus Christus, er ist das Prinzip, das der Welt ihre vernunftgemäße Gestalt einprägt.
Dies ist also die Schlachtordnung: Auf der einen Seite der Logos, mit der katholischen Kirche als der letzten Vertreterin dieser tiefen und universalen Wahrheit ,und auf der anderen Seite der Relativismus, der selbst keine Wahrheit kennt und der das einzige Ziel hat, mit tausend Fingern jede Wahrheit zu zerbröseln und aufzulösen.
Die Väter des Bösen
Woher kommt dieser Abstieg? Warum wurde die Wahrheit des Logos, einst die gemeinsame Grundlage Europas, zurückgedrängt auf die letzte Arche der katholischen Kirche in einem steigenden Meer des Relativismus?
Zwei Faktoren haben dafür zusammengewirkt: Der Glaube wurde entscheidend geschwächt, indem ihm seine Verbindung mit der antiken griechischen Philosophie entzogen wurde und der Relativismus wurde gestärkt durch den Siegeszug der Naturwissenschaft und ihres einseitigen Weltbilds.
Den ersten Faktor hat Benedikt in seiner Regensburger Rede 2006 dargestellt. Die Reformation mit Luther an der Spitze hat durch eine einseitige Betonung des biblischen Textes seine Verknüpfung mit der Philosophie zerstört. In einem nächsten Schritt hat dann die historisch-kritische Methode diesen biblischen Text zu einem rein geschichtlichen Dokument gemacht, jede Vorstellung einer göttlichen Offenbarung verdunstete dadurch in ein Spiel mit leeren Worthülsen.
Gegen einen so geschwächten Glauben erhob nun der „Positivismus“ sein Haupt. In der zuvor erwähnten Bundestagsrede beschreibt der Papst diesen Gegner, oder vielmehr, er konstruiert diesen Popanz: Die Naturwissenschaft lässt nur Aussagen gelten, die verifizierbar oder falsifizierbar sind, deren Wahrheit also bewiesen oder widerlegt werden kann. Nur solche Aussagen sind streng vernünftig und deshalb muss alles, was darüber hinausgeht, z.B. Ethik und Recht (und erst recht die Religon), als rein subjektiv angesehen werden. Und das heißt, dass alles jenseits der harten Naturwissenschaften der Diktatur des Relativismus verfällt.
Professor und Admiral
Aus dieser Grundausrichtung ergeben sich zwei Eigenheiten dieses Papstes, die üblicherweise als widersprüchlich angesehen werden. Zum Einen gibt ihm seine Anschauung der Welt und des Glaubens eine absolute innere Sicherheit, die sich auch im Umgang mit „Andersgläubigen“ manifestiert. Wenn er sozusagen an der Reling der Arche Noah namens katholische Kirche steht und sich von dort mit den Schwimmern im Meer des Relativismus unterhält, ist er immer frei von Aggressionen, mit denen andere ihre Meinung verteidigen müssen. Und er genießt auch seine seltenen Ausflüge in die Welt eines anspruchsvollen Diskurses mit wem auch immer.
Was allerdings die Arche Noah selbst angeht, so sieht er es als seine Pflicht an, diese letzte und gefährdete Zuflucht des Logos mit allen Mitteln zu verteidigen. Offensichtliche oder verborgene Lecks, durch die die Pest des Relativismus eindringen könnte, ja, auch nur Stellen, die sich vielleicht zu einem solchen Leck entwickeln könnten, müssen trocken gelegt werden, koste es, was es wolle. Man erledige das möglichst geschickt mit möglichst geringer Publicity, was angesichts der sehr vorhersehbaren Aufmerksamkeit der Massenmedien auch nicht schwer ist (einige Beispiele werden in späteren Posts folgen).
Dieser letztere Aspekt kann allerdings zunehmend vernachlässigt werden. Einerseits wird das Thema „katholische Kirche“ in der Welt da draußen immer langweiliger. Wenn keine echten Skandale zur Verfügung stehen (und das Thema Mißbrauch ist ein echter Skandal), dann muss man sich an künstlichen Aufregern hochziehen wie den denen des letzten Papstbesuchs. Andererseits wächst in der Kirche eine „Generation Weltjugendtag“ heran, die sich an den Leitlinien von Zeremonien, Authorität, einem wenig informierten Traditionalismus und ganz allgemein an einer scharfen Gruppenidentität orientieren.
Die dunkle Seite
Es ist gibt noch einen weiteren Aspekt des Weltbildes von Benedikt XVI., der wenig bekannt ist und den er auch nicht in den Vordergrund stellt. Bereits vor seiner Wahl zum Papst war zunehmend eine starke Unterströmung in ihm besetzt von der Vorstellung dunkler Mächte, die gezielt das Gute untergruben. Einiges davon habe ich von Menschen, die damals mit ihm gesprochen haben. Anderes liegt klar zu Tage.
Sie haben bei ihm z.T. die Form menschlicher Verschwörungen. So unterstellte er den CSU-Parlamentariern, die 1988 bei ihm protestierten, weil der Vorstand des Päpstlichen Instituts für Ehe und Familie Verhütung mit Mord gleichgestellt hatte, dass sie, vielleicht ohne es zu wissen, als Werkzeuge einer antikirchlichen Verschwörung agierten.
Z.T. allerdings sieht er diese dunklen Mächte als übernatürlich an. Im Juni 2010, zum Abschluss eines sogenannten Priesterjahres, predigte er über den Mißbrauchskandal in der Kirche: „Es war zu erwarten, daß dem bösen Feind dieses neue Leuchten des Priestertums nicht gefallen würde, das er lieber aussterben sehen möchte, damit letztlich Gott aus der Welt hinausgedrängt wird. So ist es geschehen, daß gerade in diesem Jahr der Freude über das Sakrament des Priestertums die Sünden von Priestern bekannt wurden.“
Das eigentliche Problem sind also nicht diese Vorfälle selbst, sondern ihre Instrumentierung durch den „bösen Feind“. Es wurde verschiedentlich und auch sicher zu Recht berichtet, dass der Papst bei seinen Gesprächen mit den Opfern tief bewegt war. Aber diese Predigt macht auch seine Prioritäten klar: Auf der einen Seite geht es um persönliches Leid, auf der anderen um eine titanitsche Abwehrschlacht gegen den finsteren Endfeind, um die Erhaltung der letzten Arche Noah.
Die entscheidende Schwäche
Bei allen Vermutungen über diese dunkle Seite und ihrem Einfluss auf die Weltsicht von Benedikt XIV. befinde ich mich natürlich im Bereich der absoluten Spekulation. Könnte es z.B. sein, dass die Logos-Theorie des Papstes Ausfluss einer verzweifelten Suche nach Klarheit und Sicherheit angesichts des herankriechenden Übels ist, sozusagen eine Weltraumstation draussen im hellen Sonnenlicht weit über dem dunklen Sumpf der Erde?
So wenig wahrscheinlich dieses Szenario ist, so würde es doch ein Stück weit den einigermaßen gezwungenen Aufbau dieser ganzen Konstruktion von Logos vs. Relativismus/Positivismus erklären. So ist z.B. die Darstellung des Positivismus durch den Papst in der Bundestagsrede wenig mehr als die Konstruktion einer Vogelscheuche, die mit der heutigen wissenschaftlichen Praxis und ihrer Aufarbeitung durch die Wissenschaftstheorie kaum etwas zu tun hat. Ebenso ist seine Auffassung der antiken griechischen Philosophie sehr selektiv, anders ist der Logos als ihr Gipfel nicht herzuleiten.
Aus Sicht des Christentums ist allerdings die andere Seite dieses Logos verhängnisvoller. Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Zustand dieser alten Religion in ihrem Kernland Europa bejammernswert ist und dass dem, der an ihrem Fortbestand interessiert ist, das katholische Programm der „Neuevangelisation“ des Kontinents willkommen sein muss. Nur ist dieses Programm von vorneherein zum Scheitern verurteilt, wenn ihr Vorkämpfer, eben der Papst, dem Kern des Evangeliums mit äußerstem Misstrauen begegnet.
Dieser Kern besteht aus den ersten drei Evangelien, den sogenannten Synoptikern, gegenüber dem letzten, dem vierten Johannesevangelium sind sie die älteren und ohne Zweifel näher am historischen Jesus. Benedikt traut ihnen aber nicht, für ihn sind sie durch die (positivistische?) Forschung der historisch-kritischen Schule in irrelevante Atome zerlegt, zu fruchtlosem Staub zermahlen worden. Zwar gibt er die Parole aus, man müsse dem Evangelium vertrauen, er selbst aber ignoriert bereits ihre Reihenfolge. In der Bibel steht das Matthäusevangelium z.B. nicht deshalb an erster Stelle, weil es das älteste ist (das wäre dann das Markusevangelium), sondern weil die alte Kirche es als das wichtigste einstufte.
Benedikt aber glaubt nicht daran, dass unter und zwischen all den Detailforschungen zu diesem Evangelium eine erste, ursprüngliche Wahrheit verborgen sein könnte, der nachzuspüren dann die wichtigste Aufgabe wäre. Vielmehr hält er es für richtig, all das zu überspringen, unter sich zu lassen und den einen rettenden Halt zu ergreifen, den er sieht: Den Prolog des Johannesevangeliums mit dem Begriff des „Logos“, der nur in diesen ersten 18 Versen und sonst nirgends in der gesamten Bibel vorkommt. Von diesem einen Punkt aus erklärt er dann das ganze Johannesevangelium, dann weiter die Synoptiker, ja, in seiner ersten Enzyklika „Deus est caritas“ projiziert er diesen „Logos“ sogar ins Alte Testament, erhebt diesen Begriff zur geheimen Achse der monotheistischen Geistesgeschichte des jüdischen Volkes.
Ich kann mir diesen übermäßig selbstbewussten Umgang mit dem tiefsten, innersten Zentrum des christlichen Glaubens letztlich nur so erklären, dass dieser Papst seine eigene Berufung in dieses Amt tatsächlich als direkte, göttliche Bestätigung seines philosophischen Standpunkts auffasst. Dies würde vieles, allzuvieles erklären, was in den letzten Jahren vorgefallen ist.
[…] Nun braucht es aber für den Kenner noch eine kleine Prise eines besonderen Gewürzes. So theologisch überhöht der soeben skizzierte Grundsatz „ich Chef, du Turnschuh“ auch daherkommen mag, ist er doch allein ein bisschen mager. Der neokatholische Feuillitionschreiber liebt aber eine katholische Tradition, die in den Kirchenvätern und der Scholastik wurzelt. Von daher stammt die Überzeugung, dass eine vernunftgemäße Begründung, die sich auf allgemein einsichtige Wahrheiten und rationale Argumentation stützt, für den Glauben möglich und notwendig ist. Ein beliebter Aufhänger dafür ist die Regensburger Rede des Papstes, mehr darüber hier. […]
[…] Nun gab es immer wieder Versuche, über diesen Punkt hinauszugelangen, tiefer zu forschen nach dem Inhalt, der sich hinter der einfachen Formel eines einzigen Gottes verbarg. Der markanteste davon war der, den Logos der alten griechischen Philosophie ins Spiel zu bringen und z.B. Jesus Christus damit zu identifizieren. Vor allem Origenes gelangen hier Theorien auf einem hohen denkerischen Niveau. Es ist kein Zufall, dass der augenblickliche Papst Benedikt ihn so hoch einschätzt. Und aus eben diesem Grunde sieht der Papst den altgriechischen Logosbegriff und die dahinter stehende Philosophie als unverzichtbare Grundlage nicht nur des Glaubens, sondern sogar des ganzen europäischen Denkens an und sieht den Grund für den Niedergang in der Auflösung dieser Philosophie durch einen neuzeitlichen Relativismus. (Siehe meinen Post dazu) […]