Sep 192013
 

Wahrscheinlich ist mein Zerknirschungsritual hier ob der Vernachlässigung meines Blogs allmählich langweilige Routine. Tatsächlich muss ich gestehen, dass ich nach einem ganzen Tag Arbeit an 20 Sätzen zum Thema „Kreuz“ in meinem Buch am Abend eine heftige Sehnsucht nach etwas völlig anderem verspüre.

Also was tun? Glücklicherweise habe bei der Überarbeitung meines Buches gerade einen größeren Abschnitt gestrichen und kann ihn jetzt hier bringen. Das Ganze ist ja in Interviewform; Fettdruck zeigt den Interviewer an, Normaldruck die personifizierte Idee des Christentums.

Das hier ist der erste Teil des – gestrichenen – Kapitels. Es hat seinen Grund, dass er nicht in die Endfassung gekommen ist, aber schlecht ist er auch nicht wirklich.

Also, es geht los: Es spricht die Idee des Christentums.

Das Problem

Erstens einmal: Ich bin ein Unternehmen von Menschen für Menschen und ich wäre überflüssig, wenn die Menschen nicht ein grundlegendes Problem hätten. Dieses Problem lässt sich ziemlich einfach beschreiben.

Alle Eigenschaften und Errungenschaften des Menschen bauen letztlich auf seinen Erbanlagen auf. Wenn ich das mit einem Computer vergleiche, dann laufen darauf mittlerweile unglaubliche Programme, an die zu Beginn niemand gedacht hat, aber sie laufen immer noch auf der alten Hardware.

Die Entwicklung dieser Erbanlagen ist seit mindestens 30 000 Jahren abgeschlossen und deshalb sind sie an die damaligen Lebensumstände der Menschen angepasst. Sie sind optimiert für Lebewesen in Kleingruppen von Jägern und Sammlern.

Sie meinen, alles wäre besser, wenn wir in der Stein­zeit geblieben wären?

Die Frage meinen Sie nicht ganz ernst und vor allem ist sie völlig sinnlos.

Ihr Menschen seid nun einmal so, wie ihr seid und euer neugieriger und flexibler Geist treibt euch dazu, immer wieder Neues auszuprobieren. Irgendwann einmal habt ihr immer größere und komplexere Gesellschaftssysteme und Wirtschaftsweisen ausprobiert und es stellte sich heraus, dass die die Jäger und Sammler da nicht mithalten konnten. So blieben eben die großen Strukturen übrig und zu Beginn konnten sie den Menschen auch einen geistigen Rahmen geben, der sie zufrieden stellte.

Bis die Achsenzeit kam.

Ganz richtig. Vor zweieinhalb Jahrtausenden wurden die großen Kulturen von China bis ins östliche Mittelmeer zu komplex und zu dynamisch und die alten Rahmen fielen auseinander. Ihr wart jetzt mehr oder weniger in der Situation eines Nilpferds, das Fahrradkurier werden muss: So etwas ist von seinen Erbanlagen her einfach nicht vorgesehen. Es gibt Lösungen dafür, aber sie haben ihren Preis.

Die grundlegenden Probleme von damals sind im Wesentlichen die gleichen, mit denen ihr auch heute nicht fertig werdet, nur um ein Vielfaches verstärkt.

Und Ihr Rezept dagegen ist Ihr achsenzeitlicher Gott?

Das war der Anfang. Aber jetzt sehe ich mir das Ganze vom Ende her an, von Jesus und Paulus und vom Standpunkt der Liebe aus.

Grenzen und Maschinen

Sie erinnern sich an die Erzählung vom barmherzigen Samariter? Der Kern der Liebe, von der Jesus spricht, besteht im Über­schreiten der Grenzen zwischen den Menschen.

Im Grunde genommen liegt es auf der Hand, dass es innerhalb einer Gesellschaft immer mehr solcher Abgrenzungen zwischen ihren Mitgliedern geben muss, je komplexer sie wird. Einer der großen Denker des Taoismus, Dschaung Dsi, hat diesen Vorgang beobachtet und beschrieben, wie zum Beispiel Bauern, Handwerker und Krieger immer weniger zu einem wirklichen Gedankenaustausch fähig sind, da sich ihre Lebenswelten immer mehr auseinander dividieren.

Aber heutzutage sind die Menschen wesentlich flexibler, diese Grenzen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen sind doch ziemlich durchlässig geworden.

Aber um einen Preis, von dem wir noch sprechen werden. Natürlich mussten die Kulturen irgendwie auf diese Situation reagieren, schließlich konnten die Handwerker ja nicht gut verhungern, weil sie keine echte Gemeinsamkeit mehr hatten mit den Bauern, die die Nahrung erzeugten. Es entstanden neue Mechanismen, die sich befreit hatten von den schwerfälligen alten Grundlagen, von den Zyklen der Natur, von den ehrwürdigen Hierarchien der Priester und Gottkönigen.

Der Mechanismus, der all das in unübertrefflicher Weise verkörperte, war das Geld. Es hatte sich abgehoben von den verlausten und tuberkulösen Rindern, dem schimmelnden und von Mäusen bedrohten Getreide und all den anderen Mitteln des Warenaustausches, die nie zur rechten Zeit am rechten Ort abrufbar waren.

Geld, kleine gestempelte Stücke Metall, in handlichen Beuteln am Gürtel getragen oder geduldig in Kisten auf seinen Einsatz wartend; Metall das, in genügender Menge, jederzeit und an jedem Ort in eine Mahlzeit, einen Mantel oder in ein Schiff verwandelt werden konnten.

Das Metall sind wir ja inzwischen losgeworden.

Ja, aber Geldscheine und der bargeldlose Verkehr sind nur logische Fortentwicklungen dieses ersten Schrittes, das den Warentausch von seiner Grundlage, den konkreten Dingen, ablöste. Geld war das mächtigste der neuen Muster, die das Handeln der Menschen bestimmten und deshalb hat es Jesus auch als den Hauptproblem des Menschen identifiziert.

Haben Sie noch andere Beispiele?

Da wäre etwa die Volkszählung, von der am Anfang des Lukas­evangeliums berichtet wird: Menschen sind zu unterschiedlich, deshalb muss man Zahlen aus ihnen machen, um sie effizient verwalten zu können.

Auch hier ist das Entscheidende die Ablösung von den realen Dingen dieser Welt, von der Schöpfung, wie ich sagen würde. Diese Muster müssen kaum Rücksicht mehr darauf nehmen, sie können im Wesentlichen ihren eigenen, inneren Gesetzen folgen. Das ist das Geheimnis ihrer Macht über euch.

Das sind die großen Maschinen, denen ihr gehorcht. Sie nehmen euch mit in ihr eigenes Reich, weg von eurer konkreten Erfahrung eurer Umwelt und den Menschen neben euch, weg von eurer ursprünglichen Welt.

Für Sie sind wir Nilpferde als Fahrradkuriere, wie Sie sagten?

Nicht immer. Aber manchmal durchaus. Wie ihr so brav dem Mammon, den irrsinnigen Vorgaben eurer Finanzwelt folgt, das hat für den Außenstehenden doch etwas sehr Bizarres. Wenn er nicht die Macht der großen Maschinen kennt, die euch im Griff haben.

Der Traum

Sie wollen also uns Nilpferden vom Fahrrad helfen.

Ihr werdet da nicht ganz herunterkommen. Die Zwänge, denen ihr unterworfen seid, werden nicht einfach verschwinden; selbst wenn ihr einen Kurierdienst schließt, wird ein anderer, oft schlimmerer, dafür aufmachen. Der real existierende Sozialismus im ehemaligen Ost­block wollte den Kapitalismus abgelöst, hat aber dafür ein Regime brutaler Unterdrückung und korrupter Seilschaften errichtet.

Aber was wollen Sie dann?

Eine neue Lebensweise, die bestmögliche, innerhalb des bestehenden Systems. Den Traum schaffen von einer Welt jenseits von Fahrrädern und Kurierdiensten. Und diesen Traum zu leben. Das heißt, Freiräume zu schaffen, das heißt, als erstes den eigenen Kopf zu befreien und dann, neue Wege zu erahnen und zu realisieren zwischen den Zwängen der Maschinen.

Leben in der Schwebe zwischen dem Wissen, dass es nie ganz klappen wird, der Über­zeugung, dass es trotz allem irgendwo den Sieg gibt, den keiner zerstören kann und dem immer neuen Handeln, um hier, da und dort für einen Moment den Traum zu ver­wirklichen.

Mit diesem Traum meinen Sie die Vision vom Himmelreich.

Im Kern, ja.

Sagen wir einmal, jemand würde dieses Ziel übernahmen. Wäre er oder sie denn überhaupt fähig zu einem solchen Leben?

Es hört sich ein bisschen sehr heroisch an, nicht wahr? Gegen die ganze Welt in jeder Sekunde das Vollkommene leben. Das kann nicht immer und für alle funktionieren, aber es gibt Augenblicke, da wünschen sich manche genau diese Herausforderung.

Aber es gibt andere Zugänge zu mir.

Ist schon gut

Ebenso, wie es manchmal der hoffnungslose Kampf ist, der einen Menschen beflügelt, ist es öfter eben diese Hoffnungslosigkeit, die ihn lähmt bis zur Starre. Es ist das Gefühl, dass etwas nicht stimmt in seinem Leben, dass er einfach nie den Durchbruch schaffen wird dorthin, wo er hin will.

Aber sind nicht die meisten Zeitgenossen bei uns recht zufrieden mit ihrem Leben?

Haben Sie mal einen Blick auf die Bestsellerlisten geworfen? Warum, glauben Sie, werden wie verrückt diese ganzen Programme zur Selbstoptimierung verkauft, die einen erfolg­reicher, schöner und glücklicher machen sollen? Weil die Menschen mit sich selbst zufrieden sind? Nein, sie haben das deutliche Gefühl, dass da etwas schiefläuft bei ihnen, sie wissen nur nicht, was.

Sie sagen es selbst: Sie wollen erfolgreicher, schöner und glücklicher werden.

Und deshalb holen sie sich immer noch einmal das immer nächste Buch mit den nächsten sieben Regeln oder vierzehn Schritten oder neun Prinzipien für ein besseres Leben? Vielleicht ist das, was sie brauchen, einfach jemand, der ihnen erzählt, dass sie in Ordnung sind, wie sie sind.

Aber solche Gurus gibt es doch auch ziemlich viele.

Ja, aber was sagen sie? Du bist schon erfolgreich, schön und glücklich genug und wenn du mein Buch kaufst und meine Kurse buchst, wirst du das auch glauben, eine Zeitlang zumindest. Sie sagen: Liebes Nilpferd, glaube mir, du fährst ein tolles Fahrrad .

Vielleicht warten aber viele auf jemanden, der ihnen sagt: Sagen wir, du bist schwach, hässlich und traurig. Gut, dann teilst du damit nur das Schicksal aller Menschen. Nilpferde auf Fahrrädern schauen eben doof aus, sind schlechte Kuriere und nicht besonders happy.

So etwas hört aber niemand gerne.

Ja, weil sie nicht anders denken können, als dass sie so ihren Wert als Menschen ver­lieren. Wenn sie aber jemand absolut Überzeugender bei der Hand nimmt und sagt: „Komm, wir gehen da zusammen rein“, finden sie vielleicht den Mut dazu. Und dann finden sie vielleicht den Flash, der ihnen zeigt, dass sie so erst zu leben beginnen, frei von allen Bewertungen, dass sie nie mehr über die Stöckchen springen müssen, die ihnen alle Welt hinhält.

Sie meinen mit diesem Jemand Jesus und mir dem Reingehen das Kreuz.

Ja, das Hineingehen in die totale Niederlage. Die Auferstehung gehört natürlich dazu, die Zuversicht, dass diese Niederlage nie endgültig ist. Vor allem aber gehört dazu das Wissen, nicht allein zu sein, dass mitten in dieser Niederlage, die allen Menschen eigen ist, die Gemeinschaft mit allen Menschen liegt, nicht abstrakt, sondern verkörpert in diesem einen Menschen, der für euch alle euer Projekt, eure Niederlage und den verborgenen Sieg trotz allem gelebt hat.

Das wärs eigentlich, mehr habe ich dazu nicht zu sagen.

  One Response to “Nilpferde und Fahrräder I”

  1. Gut. Aber bei diesen Gedankengängen unbedingt Graeber (Schulden, die ersten 5000 Jahre) anschauen. Insofern ganz konform, als er die Achsenzeit und die philosophischen und religiösen Probleme und Lösungsversuche tatsächlich auch mit dem Geld verknüpft.
    Allerdings widerlegt er sehr überzeugend die Idee, dass Geld und vor allem Münzen als Tauschmittel entstanden seien.
    Menschen symbolisieren gerne und sie symbolisierten Verbindlichkeiten, auch als virtuelle Kredite (war vor den Münzen!). Münzen wurden von Staaten ausgegeben, die (für Armeen) Steuern eintreiben wollten und dazu Geld und Märkte brauchten.
    Scheint ein kleinliches Gemäkel an der Erwähnung des Tauschmittels Geld, aber es lohnt sich, da reinzuschauen.

 Hinterlasse eine Antwort

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

(required)

(required)