.. „auf die Kanonen zumarschieren“. Das war ein Prinzip der Kriegsführung des 19. Jahrhunderts. Also: Egal, wie die offiziellen Befehle lauten, wenn von irgendwo her das Donnern der Geschütze zu hören ist, ist dort die Schlacht, findet dort die Entscheidung statt und das ist der Ort, wohin man auch selbst marschiert, und zwar so schnell wie möglich.
Das heimliche Motto der zeitgenössischen Theologie ist die Umkehrung dieses Prinzips. Es besteht darin, sich mit zugehaltenen Ohren möglichst elegant in möglichst weitem Abstand an diesen gefährlichen Feuerschlünden vorbei zu schlängeln und dieses Verhalten dann als das einzig Richtige zu verkaufen.
Wo stehen die Geschütze?
Das heißt: Wo in der christlichen Lehre sind die Brennpunkte, die zentralen Probleme, die als Erstes und Wichtigstes in Angriff genommen werden müssten, koste es, was es wolle? Es sind vier an der Zahl, drei davon bekannt und das vierte unbeachtet, aber auf der Hand liegend.
- Die Theodizee (wie passt der allmächtige Gott zusammen mit dem guten Vater im Himmel, wenn man das Leid in der Welt betrachtet?)
- Die Dreifaltigkeit (wie passt der einzige Gott zusammen mit Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist?)
- Die sogenannte Rechtfertigungslehre (letztlich der Konflikt zwischen der Lehre von Jesus und der Lehre von Paulus)
- Das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament (Ist eines von den beiden eigentlich überfüssig?)
Das Castor-Verfahren: Isolieren und Endlagern
Die wichtigste Taktik, um mit diesen Anomalien fertig zu werden, ist es, sie voneinander zu isolieren. Sie werden, jede für sich, in einem eigenen Raum in der riesigen Bauruine der christlichen Theologie angesiedelt und als eigenständiges Problem angesehen und behandelt. Dieser Ansatz ist der entscheidende, um sie zu entschärfen.
Der zweite wichtige Faktor ist die unsichtbare Isolierschicht einer tödlichen Erschöpfung, die diese Probleme umgibt. Es gibt wohl keinen ausgebildeten Theologen, der nicht die vielen Jahrhunderte in seinen Knochen fühlen würde, in denen brilliante Geister sich vergeblich für eine Lösung abgemüht haben und demgemäß die instinktive Neigung hätte, sich hinter einem Schleier kluger Worte von diesen schmerzlichen Punkten fern zu halten.
Um jeden Preis
Aber es ist ebenfalls meine Überzeugung, dass diese Zurückhaltung den langsamen Tod des christlichen Glaubens durch Ausbluten bedeutet, dass jetzt der Zeitpunkt ist, diese vier Hauptpunkte anzugehen, um jeden Preis. Marcher aux canons! Es hat keinen Sinn, sie einzeln anzugreifen: Wenn diese vier Hauptpunkte der Religion tatsächlich seit ihrem Anbeginn zusammenhanglos nebeneinander hindümpeln, wird sie ohnehin nicht überleben.
Jetzt oder nie mehr ist es die Zeit, blindlings die Annahme zu machen und daran festzuhalten, dass das Christentum seine Jahrtausende langen Erfolge auch unter schwierigsten Umständen niemals erreicht hätte ohne eine tiefe spirituelle Einheit in ihrem innersten Kern. Und dass es möglich ist, diesen Kern auf genau eine Art aufzufinden, nämlich indem man seine härtesten Anomalien frontal angeht.
Bereit, alles an altgewohnten Vorstellungen aufzugeben in der Hoffnung, sie später wieder zu finden. Bereit, jeden Preis zu zahlen für dieses Ziel: Jahre und Jahrzehnte in vergeblichen Mühen, ohne jede Querverbindung mit der Zunft, ohne Hilfe aus die den laufenden Diskurs, Schritt für Schritt auf den eigenen Tod vorzurücken in dem Bewusstsein, noch nichts erreicht zu haben.
Marcher aux canons.
Bei ehrlich gemeintem Respekt für Ihre Vorgehensweise: ich denke, es wäre der sichere Untergang eines jeden Glaubens, wenn man sich diesen Dingen wirklich mit intellektueller Redlichkeit stellen würde.
Die großen Geister, die ich kenne, die sich diesen Dingen wirklich gestellt haben, sind in merkwürdigen Sackgassen des Denkens gestrandet. Einer der wenigen, die nicht im Treibsand der Beliebigkeit versunken sind, war Baruch d’Espinoza, und er segelte gefährlich nah am Atheismus entlang, was für seine Zeit recht ungewöhnlich war, und weswegen ich ihn zu meinen ewigen Helden zähle.
Ich wäre gespannt, zu lesen, auf welche Weise Sie sich dem Thema stellen.
[…] es ist aber so. Die Aufgaben der Theologie liegen auf der Hand (siehe mein Post Marcher aux canons), oder vielmehr die Aufgaben, die jede andere Wissenschaft auf diesem Gebiet sehen würde. Aber […]