Sep 302012
 

Manchmal muss ich über mich selbst lachen, wenn ich mich dabei beobachte, wie zuverlässig ich mich über den dumpfen Blödsinn aufregen kann, den mir die Medien täglich ins Haus liefern.

Eine der Nährflüssigkeiten, die am fruchtbarsten ist bei der Produktion von höchstens halbgaren Vorurteilen, ist die allgemeine Vorstellung von „Mittelalter“. Der Schwachsinn, den dieses Stichwort bei eigentlich informierten Menschen auslöst, ist durchaus bemerkenswert.

Wie bitte?

Mein Aufreger der vergangenen Woche war ein Interview in dem bekannten Qualitätsblatt namens Süddeutsche Zeitung, in der ein Vordenker des nachhaltigen Lebensstils aufzählte, was sich alles an unserer jetzigen Lebensweise ändern muss: Keine Autos, keine Flugreisen usw. (alles übrigens durchaus richtig und auch, wie ich weiß, nicht besonders schwer zu realisieren).

Der Interviewer meinte, dass all das nur durch staatliche Zwangsmaßnahmen durchzusetzen sei. Die Antwort lautete: „Unsinn, keine Diktatur. Ich will nicht zurück ins Mittelalter.“

Was war denn das?

Diktaturen

Da ich all meinen Lesern blindlings einen enormen Bildungsstand unterstelle, ist es natürlich überflüssig, wenn ich zunächst einmal darauf hinweise, dass das absoluter, idiotischer, strohdummer Blödsinn ist.

Das Wort „Diktator“ kommt aus dem alten Rom und bezeichnet einen verfassungsmäßigen Ausnahmezustand, in dem die sonst übliche Machtverteilung, die checks and balances zwischen zwei Konsuln an der Spitze des Staates zeitweise abgelöst wurde durch die Ernennung eines Einzelnen mit unbeschränkter Machtfülle. Spontan fallen mir nur drei solche Amtinhaber ein (Cinna, Fabius Cunctator und Sulla).

Danach der Begriff erst im 20. Jahrhundert wieder zu Ehren, falls man das so nennen will, und zwar im Rahmen des Faschismus und Kommunismus.

Das davon abgeleitete Wort „Diktatur“ kam allerdings bereits im 19. Jahrhundert in Schwang (z.B. in der Vorstellung von der „Diktatur des Proletariats“). Es bezeichnet wohl am ehesten einen totalitären Staat, der tendenziell jegliche Regung des Untertanen, sei sie praktischer oder geistiger Natur, kontrolliert und ggfs. brutal unterdrückt.

Und einen solchen Staat hat es natürlich das ganze Mittelalter hindurch nicht gegeben, schon allein deswegen, weil die organisatorischen Möglichkeiten dazu fehlten. Diktaturen sind eine Entwicklung unserer fortschrittlichen und aufgeklärten Moderne.

Immer anders, aber immer das Gleiche

Um dies festzuhalten: Ja, unsere Zeit hat in sehr vielen sehr wichtigen Dingen Fortschritte gegenüber dem Mittelalter gemacht. Und ja, wer sich darum bemüht, kann sich über viele Dinge in einer Art und Weise aufklären, die unseren Vorfahren vor ca. 1000 Jahren nicht zur Verfügung stand. Um so bedauerlicher ist es, wenn diese Aufklärung auf breiter Front wieder gegen eine dumpfe Sammlung von Vorurteilen eingetauscht wird, wie auch und vor allem beim Stichwort „Mittelalter“.

Das Vorurteil der Aufklärung

Wirklich eingeführt und zementiert wurde die rein negative Sicht auf jene Zeit in der Aufklärung. Die Stichworte kann man z.B. bei Friedrich Schiller finden, für den der „niedergedrückte Geist nordischer Barbaren“ das Mittelalter prägte. Ausführlicher bei Immanuel Kant in seinen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“. Auch für ihn ist das Mittelalter bestimmt durch die Zerstörung des antiken Roms durch die „nordischen Barbaren“:

Die Barbaren, nachdem sie ihrer Seits ihre Macht befestigten, führten einen gewissen verkehrten Geschmack ein, den man den gotischen nennet und der auf Fratzen auslief. Man sahe nicht allein Fratzen in der Baukunst, sondern auch in den Wissenschaften und den übrigen Gebräuchen … Während dieser Zeit ward die Religion zusamt den Wissenschaften und Sitten durch elendigliche Fratzen entstellet und man bemerket, dass der Geschmack nicht leichtlich auf einer Seite ausartet, ohne auch in allem übrigen … deutliche Zeichen seiner Verderbnis darzulegen.“

Das Vorurteil der Jetztzeit

Diese Vorstellung einer grundsätzlich üblen Zeit ist auch heute noch im Schwange, siehe das Eingangszitat und viele weitere, die man jederzeit den Medien, den Internetforen und einer riesigen Menge von Trivialliteratur entnehmen kann. Nordische Barbaren sind aber als Buhmänner out, zu sehen am Dauererfolg der Serie „Wiki und die starken Männer“, die die lustigen Abenteuer eines lustigen kleinen Wikingers bei den lustigen großen Wikingern schildert. Einzelne historische Details werden hier nicht so ganz hundertprozentig herausgearbeitet, etwa die lustige Sitte, nach Eroberung, Plünderung und Leermassakrierung einer Ortschaft alle kleinen Kinder, deren man habhaft werden konnte, in die Luft zu werfen und auf den Speeren aufzufangen als Opfer an Odin.

Der neue Buhmann

Es musste also ein neuer Bösewicht her. Gefunden wurde die Religion und insbesondere die Kirche. Kaum eine Serie oder ein Exemplar der schon erwähnten Trivialliteratur kommt ohne finstere, kapuzenbewehrte Inquisitoren aus, die die Helden des Buches verfolgen, einkerkern und auf den Scheiterhaufen bringen wollen, als Ketzer oder als Hexen. Dass der zahlenmäßige Schwerpunkt z.B. der spanischen Inquisition und auch der Hexenprozesse in der Neuzeit liegt, bleibt ohne Belang.

„Mittelalter“

Es lohnt sich, einen kurzen Blick auf die Entstehung dieses Begriffs zu werfen. Die Renaissance prägte ihn und bezeichnete damit erst einmal wertneutral die Zeit zwischen dem Ende des römischen Reiches und der Gegenwart, in der sie lebten. Die große Erneuerung, die sie empfanden und vorantrieben, war vor allem in der Philologie angesiedelt, in der Wiederentdeckung alter Quellen (die ihnen zum allergrößten Teil nur durch den getreuen Fleiß der mönchischen Kopisten überliefert wurde). Negativ beurteilten sie das „Mittelalter“, die Aetas media, eigentlich nur in der Baukunst. Um die Minderwertigkeit dieser Architektur zu kennzeichnen, belegten sie sie mit dem Namen „gotisch“, nach dem Stamm, der Rom eroberte und plünderte und damit symbolisch das Ende Roms markierte.

Eine merkwürdige Blindheit

Merkwürdig eigentlich, dass gerade die Leute, die in Italien an erster Stelle die Neuzeit vorantrieben, so blind waren und nicht die umfassende Verderbtheit dieser eben abgelaufenen Zeit erkannten (das war übrigens ironisch gemeint). Vor allem war ihnen offensichtlich das alles übersteigende Übel von Religion und Kirche nicht so richtig klar; vielleicht wären sie auch überrascht gewesen, wenn man sie darauf hingewiesen hätte in einer Zeit der häufigen Invasionen durch Frankreich und Spanien, der ständigen Bürgerkriege und politischen Morde, die um diese Zeit im Schwange waren.

Das große Übel

Ich denke aber, dass das Problem der Einstellung gegenüber dem „Mittelalter“ nicht in dieser oder jener propagandistischen Verzerrung liegt. Wie gezeigt, ist sie eine grundsätzliche, die sich, je nach Bedarf und Mode diese oder jene Rechtfertigung holt. Diese dumpfe Vorstellung einer dunklen Zeit beruht auf vielen unterschiedlichen Vorstellungen. Eine kleine Aufzählung:

Pest: Im Mittelalter herrschten (ständig?) furchtbare Epidemien. Das ist richtig, aber keineswegs auf jene Zeit beschränkt. Der Verfall des römischen Reiches begann ca. 200 n.Chr. mit einer Serie von Seuchen, die das Ende der Prosperität des Mittelmeerraumes mit sich brachte. Und wer diesbezüglich Illusionen über die Neuzeit hat, sollte z.B. das Werk von Daniel Defoe über die Pest in London 1665 lesen.

Hygiene: Niemand hat sich im Mittelalter gewaschen (so ungefähr). Das „Mittelalter“ umfasst ca. 7 ganz unterschiedliche Jahrhunderte. Vom 13. bis zum 15. Jahrhundert war die große Zeit der Badehäuser. Wer es sich leisten konnte, badete dort zumindest einmal in der Woche. Ein Mensch dieser Zeit wäre entsetzt gewesen über den Gestank am Hofe Ludwigs XIV., an dem massive Parfumwolken mit dem Odeur niemals gewaschener Körper kämpften.

Hunger: Auch hier gab es ganz verschiedene Zeiten. Die Epoche nach der Pest brachte aufgrund der verminderten Bevölkerung einen relativ hohen Lebensstandard auch für die unteren Schichten mit sich. Lange nach dem Beginn der Neuzeit sahen die Dinge für die breite Masse nicht so gut aus.

Denkverbote: Das wäre ein Thema für mehrere Posts. Hier nur kurz: Theologie und die damit verbundenen Kontroversen waren der Beginn des abstrakten, systematischen Denkens nach dem Zusammenbruch der Völkerwanderung. Der eigentlich schon zur Philosophie gehörige sogenannte Nominalismusstreit wurde von den Parteien auch mittels Scheiterhaufen ausgetragen, wobei einmal die eine und dann wieder die andere Seite die Oberhand gewann. So unangenehm dies für die Beteiligten auch war, ein Verzicht aufs Denken lässt sich während dieser ganzen Zeit nicht feststellen.

Atombomben: Hatten wir noch nicht, kommt aber bestimmt noch einmal. Der allgemeinen Tendenz folgend, nach der wir alles Negative (einschließlich der Diktaturen) ins Mittelalter verlegen, wird irgendwann einmal Hiroshima und Nagasaki in die Zeit Karls des Großen verschoben werden.

Na und?

Abgesehen davon, dass es mein privates Hobby ist, mich über solche Dummheiten aufzuregen: Was schadet es schon, wenn eine große Anzahl von Leuten falsche Ansichten über eine ganze Epoche hat?

Für die Antwort möchte ich zum Beginn meines Posts zurückkehren, zu der Diskussion über einen Lebensstil, der auf weltzerstörerische Praktiken verzichtet: Wenn es in unserer Tradition einen Strang gibt, der einen bewußten Verzicht auf das blinde konsumeristische Mitläufertum glaubhaft machen kann, dann ist es sicher der einer solchen Lebensweise um einer höheren Idee willen, wie es z.B. die ersten Mönche vorgelebt haben. Der blinde Verzicht darauf, auch nur einen Blick auf diese Überlieferung zu werfen, weil jeder weiß, dass Mittelalter sowieso Scheiße ist (sit venia verbo), ist alles …

… nur nicht zielführend in einer Zeit, in der wir Zielführendes dringend benötigen.

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