Sep 052012
 

Basisdiskurs Religion XXIV >>>mehr

In meinem letzten Post habe ich von den drei Wegen oder Richtungen gesprochen, die die Menschen in der Achsenzeit um 500 v. Chr. entwickelt haben, um mit den immer schnelleren Veränderungen ihrer Umwelt fertig zu werden, genauer gesagt, mit der wachsenden Geschwindigkeit, mit der sich diese Umwelt von den Ursprüngen entfernte, in denen unsere Spezies entstand und für die unsere genetischen Anlagen entwickelt wurden. (Natürlich gab es daneben noch ein breites Spektrum anderer Ansätze, religiöser und philosophischer Art, die jedoch nicht die Bedeutung dieser drei erreichten)

Es scheint, als ob Dinge, die zuvor selbstverständlich waren, damals plötzlich fraglich wurden, als ob der sich beschleunigende Wandel das Bedürfnis nach einer grundsätzlichen geistigen Neuorientierung geweckt hätte.

Die große Frage (falls es sie gibt)

Dieses Bedürfnis war diffus. Am besten hat es wohl damals der daotistische Philosoph Dschuang Dsi beschrieben (den betreffenden Text habe ich hier einmal in voller Länge gebracht). Die Fragen, die sich den Menschen damals stellten, lassen sich wohl in etwa so formulieren: Was ist mein eigentliches Wesen? Und/oder was ist mein Platz in der Welt?

Wie war es denn zuvor?

Wenn ich sehe, dass diese Fragen zu irgend einem Zeitpunkt aufgetaucht sind, dann wird es wohl so sein, dass davor hinreichend befriedigende Antworten da waren. Und wenn ich im „Zuvor“ nach diesen Antworten suche, wird es wohl das Beste sein, ganz zu den Anfängen zurückzugehen, zu den ursprünglichen Jäger- und Sammlervölkern.

An diesem Punkt muss ich mich für ein ziemlich unwissenschaftliches Vorgehen entscheiden. Da es nur vage und ständig wechselnde Vermutungen über das Geistesleben unserer fernen Vorfahren vor, nun sagen wir, 30 000 Jahren gibt, muss ich von der Voraussetzung ausgehen, dass die heute noch existierenden Jäger- und Sammlerkulturen in etwa mit den damaligen gleichzusetzen sind. Wenn es um Einzelheiten geht, wäre eine solche Vermutung sicher viel zu spekulativ. Wenn ich aber Tendenzen sehe, die in allen bekannten solchen Völkern gleich sind, darf ich mit ziemlich gutem Gewissen annehmen, dass es sich hier um allgemeine Gesetzmäßigkeiten derartiger Kulturen handelt, dass der Mensch sich damals in der Lebensweise des Jagens und Sammelns im Großen und Ganzen so organisiert hat, wie er das heute unter ähnlichen Umständen tut.

Drei Dimensionen

Wie beantwortet also ein solcher Mensch die Frage nach seinem Wesen und seinem Platz in der Welt? Die drei Dimensionen, die ich jetzt dafür heranziehe, hören sich banal an und das sollen sie auch sein, so banal und selbstverständlich wie möglich. Es sind die Dimensionen der Gemeinschaft in der ich lebe, der Dinge um mich herum und der Introspektion, also des Bemühens, in mich hineinzusehen und zu verstehen, was in mir vorgeht.

Die Gemeinschaft

Ein Südseestamm hat für die Frage nach dem Wesen des Menschen ein schönes Bild gefunden:

Der Mensch ist wie ein Boot. Sein Körper ist der Bootsrumpf. Ruder und Segel aber entsprechen seiner sozialen Identität, seiner Rolle innerhalb des Stammes.

Also: Grundlage ist seine körperliche Existenz. Aber alles, was darüber hinaus geht, entspringt aus der Gemeinschaft. Ein markantes Beispiel hierfür liefern die Maori Neuseelands (übrigens die einzige solche Kultur, die ich selbst aus erster Hand erleben durfte). Sie sind berühmt für ihr Moko, ihre Gesichtstätowierungen. Diese entstanden keineswegs aus dem künstlerischen Geschmack eines Tatoo-Meisters oder den modischen Vorlieben des Tätowierten selbst. Vielmehr informierten sie exakt über die gesellschaftlichen Funktionen des Trägers und die seiner Vorfahren, jeweils eine Gesichtshälfte für die väterliche und mütterliche Linie. War einer der Elternteile Sklave gewesen, blieb die entsprechende Hälfte frei, ein eindrucksvolles Signal für die Nichtexistenz eines solchen Menschen. (Das Bild zeigt König Twhiao, porträtiert von Gottfried Lindauer)

Ein eindrucksvolleres Symbol ist wohl kaum denkbar: Das eigene Gesicht, der klarste Ausdruck meiner Identität, ist vor allem Ausdruck meiner sozialen Rolle innerhalb der Gemeinschaft.

Der Stamm ist die Menschheit

Es lassen sich viele ähnliche Sachverhalte aus verschiedenden solchen Kulturen zusammen tragen. Einer aber ist bei fast allen gleich: Der Ausdruck für „Mensch“ und „Stammesmitglied“ ist der gleiche. Zum Mensch wird man dadurch, dass man der eigenen Kultur angehört. Außerhalb verliert man alles, was das eigene Wesen ausmacht. Solange mich diese Gemeinschaft trägt, erübrigt sich die Frage: „Was bin ich?“

Die Umwelt

Die zweite Dimension ist die Umwelt, also für Jäger und Sammler die Natur, in der sie leben. Wenn derartige Stämme darüber hinaus gehen, sich selbst einfach „Menschen“ zu nennen, fügen sie meist noch das Land, die Umwelt hinzu, in der sie leben. Manchmal nennen sie sich einfach „Menschen der Erde“, wie z.B. die Mepuche in Südamerika oder die Maori, die sich selbst als „Tangata Whenua“ bezeichnen, „Leute des Landes“. Jäger- und Sammlerkulturen können sehr voneinander verschieden sein. Allen gemeinsam ist eine tiefer spirituelle Verbundenheit mit dem Land, in dem und von dem sie leben.

Die Dinge da draußen

Spirituelle Dinge sind schwer zu beschreiben und im Allgemeinen sollte man die Finger davon lassen. Aber ein Detail dieser Verbundenheit mit der Umwelt ist wichtig: Sie besteht in einer direkten Verbindung, einer persönlichen Empathie, zwischen dem Einzelnen und den Dingen da draußen. Der Mensch macht Platz in seinem Inneren, ergreift die Sache da draußen und macht sie zu einem Teil seiner selbst. Dieser Teil bleibt aber dabei in gewisser Art diese fremde, äußere Sache.

Sichtbar wird das z.B. an den unglaublichen Höhlenmalereien, von denen immer wieder immer wieder ältere entdeckt werden, Malereien, die zurückreichen bis zum Beginn unserer Art. Diese lebensprallen Darstellungen der Tierwelt, entsprangen nicht aus der Beherrschung malerischer Techniken, sondern daraus, dass der Maler in einem gewissen Sinne das Pferd, das Nashorn, das Mammut war. Das, was er da malte, stammte also aus seinem Inneren, aber dem, was er schuf, scheint fast nichts vom Inneren eines Menschen anzuhaften, scheint die Kraft, das Leben des Tieres selbst in sich zu tragen.

Das Leben des Menschen, das war das Leben in der Welt, die Wunder und Schrecken dieser Welt waren ein Teil dieses Lebens und lebten in ihm.

Das Innere

Diese beiden Dimensionen waren die entscheidenden, um unsere fernen Vorfahren zu orientieren, um das zu befriedigen, was uns als die Frage erscheint, die ich zu Anfang formuliert habe: „Was ist mein eigentliches Wesen? Und/oder was ist mein Platz in der Welt?“

Als die dritte und eigentlich die wichtigste Dimension zur Beantwortung dieser Fragen erscheint uns die der Introspektion, des Blicks in das eigene Innere, um die eigene Natur zu ergründen, in der doch die Antworten dazu liegen müssen. Diese Dimension erschien aber erst zu einem späteren geschichtlichen Zeitpunkt, einiges darüber habe ich bereits in meinen früheren Blogs geschrieben.

Merksatz

Als Merksatz für die drei Dimensionen möchte ich die Entwicklung eines Menschen anführen: Die Gemeinschaft der Familie und der weiteren menschlichen Gemeinschaft als lebensnotwendige erste Komponente nach der Geburt, die selbstständige Entdeckung und Eroberung der Umwelt in der ersten Jahren als die entscheidende zweite Komponente zur Individuation und die Introspektion (normalerweise) als Komponente der Pubertät, wenn sich die Selbstverständlichkeiten der Kindheit verflüchtigen.

In diesen drei Dimensionen bewegen sich die menschlichen Denkansätze, die bis in unsere Zeit als Weltreligionen überlebt haben.
Der nächste Post des Basisdiskurses trägt den Titel „Archilochos„. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie hier den Newsletter.

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