Basisdiskurs Religion XX >>>mehr
Ich mache mich jetzt an eine Aufgabe, die sowohl für mich als Autor als auch für Sie als Leser frustrierend werden dürfte. Es ist die eine Sache, den starken Monotheismus theoretisch zu beschreiben und zu verteidigen, also die Vorstellung, dass alles, was mir zustößt, dem Willen eines einzigen, unbegrenzt mächtigen Wesens entspringt. Etwas anderes ist die Erklärung, wie diese Idee als Lebensphilosophie, als Lebensgefühlt, als geistige Haltung, als Blick auf die Welt funktioniert.
Das Problem
Wie soll ich etwa in einem Blog beschreiben, wie man einen Pickel richtig einsetzt (sie wissen schon, dieses Werkzeug, das man früher einmal geschwungen hat, um den Boden aufzuhacken). Wie man ihn schwingt, mit seinem Gewicht mitgeht, den ganzen Körper einsetzt, anstatt dagegen zu arbeiten und nur die Arme zu gebrauchen. Mein Körper erinnert sich noch genau an diese Technik, ab wo kann ich die Worte finden, um einem Leser genau dieses Gefühl zu vermitteln? Ich denke, ich müsste zu langen und umständlichen Erklärungen greifen, die zuletzt vielleicht mehr verwirren als erhellen. Trotzdem, es muss versucht werden.
Die vier edlen Wahrheiten des Buddhismus
Wenn Sie ein paar Mal in meinen Blog aufgesucht haben, ist es Ihnen vielleicht aufgefallen, dass ich in Fragen der Religion immer wieder den Buddhismus als Referenz heranziehe. Das tue ich, weil er von allen Religionen die klarste und präziseste Darstellung seiner selbst liefert, beginnend mit seiner Grundaussage, den vier edlen Wahrheiten: Das Leben ist Leid; Ursache des Leids ist die Begierde; es gibt einen Weg aus dem Leiden; dieser Weg ist der achtfache Weg.
Hierbei sind die ersten beiden Aussagen eine Diagnose (was läuft falsch) und die nächsten beiden eine Therapie oder zumindest der Hinweis darauf (was ist dagegen zu tun). Häufig hat eine Religion in einer der beiden Disziplinen eine Schwäche. Der Taoismus z.B. weist einige brilliante Diagnosen der grundlegenden Probleme des Menschen auf (z.B. hier), während der Monotheismus, genau betrachtet, nur eine Lösung anbietet (der Glaube an den einen Gott). Das Problem, das dieser Glaube lösen soll, bleibt dabei im Dunkeln.
Zwar tauchen in der Bibel oft Vorstellungen von einem grundlegenden Übel auf, das den Menschen irgend wann einmal befallen hat und das er seitdem nicht mehr los wird. Die bekannteste Formulierung ist in diesem Zusammenhang die der „Erbsünde“, von der Adam und Eva und ihre Nachkommen infiziert wurden. Es gibt aber auch andere Geschichten, etwa die von Kain und Abel, in der der Ackerbauer Abel den Mord in die Welt bringt, indem er den Hirten Kain erschlägt.
Irgend etwas ist wahrscheinlich schief gegangen
Es gibt eine einleuchtende Perspektive auf diese Vorstellung. Unsere grundlegende genetische Ausstattung wurde vor gut 30000 Jahren abgeschlossen, seitdem hat sich nicht mehr viel getan. Und wir leben heute in einer Welt, die radikal verschieden ist von der Umgebung, auf die hin wir eigentlich optimiert sind. Einige von den Problemen, die daraus folgen, sind bekannt. Wir wissen z.B., dass wir nicht den ganzen Tag im Sessel sitzen sollten, sondern, wie unser Vorfahren als Jäger und Sammler, Bewegung brauchen. Und es leuchtet ein, dass Ähnliches für unseren Geist gilt, dass wir ihm heute etwas fehlt, was in der damaligen Lebensweise selbstverständlich war.
Meine Theorie habe ich in meinem schon mehrfach formuliert. Zusammengefasst lautet sie: Was uns seit damals verloren gegangen ist, das ist die umfassende und tiefe Wahrnehmung unserer persönlichen Umwelt. Dieses Defizit bedeutet für uns den Verlust unserer geistigen Achse, unserer Einwurzelung, unseres Bürgerrechts in diese Welt.
Meine Hauptargumente hierfür sind zweistufig. Auf der ersten Stufe geht es um die Welt unserer fernen Vorfahren, der steinzeitlichen Jäger und Sammler. Erstens liegt es auf der Hand, dass eine solche tiefe Erfassung der Umwelt einen vielleicht lebenswichtigen Vorteil für das Überleben in dieser Umwelt bietet. Zweitens zeigt die Forschung an zeitgenössischen „Steinzeit“-Völkern durchgehend eine tiefe und starke spirituelle Verbundenheit mit dem Land, in dem sie leben. Ein nicht wissenschaftliches, aber für mich absolut überzeugendes Argument liefern mir die künstlerischen Erzeugnisse der ersten Menschen. Es werden ständig neue figürliche Darstellungen entdeckt, vor allem in der Malerei entdeckt, die einen Schwung und eine Einfühlsamkeit für die dargestellten Tiere aufweisen, die einfach faszinierend sind.
Landwirtschaft als Sündenfall
Wirklich relevant werden diese Überlegungen bei der Gegenüberstellung mit den späteren landwirtschaftlichen Gesellschaften. Vielleicht erst einmal als allgemeine Hintergrundinformation: Die landläufige Vorstellung, dass der Übergang für die Beteiligten auf jeden Fall ein Vorteil war, trifft nicht zu. Die Analyse der Knochen und der Zähne der ersten Bauern zeigt deutliche Mangelerscheinungen in der Ernährung gegenüber der vorangegangenen Jäger- und Sammlergesellschaften.
Zwei Faktoren sind für mich wichtiger: Erstens bricht mit der Einführung des Ackerbaus jede künstlerische Beträtigung jäh und vollständig zusammen. Der Impetus, aber auch die Notwendigkeit einer tieferen Auseinandersetzung mit der Umwelt ist offensichtlich entfallen. Zweitens, und dies finde ich das interessantere Detail: Die Ausbreitung des Ackerbaus war in Wahrheit eine Ausbreitung der Ackerbauern. Wo zuvor bei den Jägern und Sammlern genetische Vielfalt herrschte, wo also einzelne Völker voneinander getrennt lebten, bestens angepasst in ihrer jeweiligen Umwelt, dort breitet sich eine einheitliche Kultur aus, die nicht mehr angewiesen ist auf diese optimale Anpassung: Sie bringt ihre eigene Umwelt mit, die sie in den unterschiedlichen Landschaften einrichtet. Die Lebensumwelt der Menschen wird transportabel, das heßt, der innere, eigentliche Lebensbereich, der ihn nährt und in dem er arbeitet. Die weitere Umwelt, der Fluss am Rande der Felder und die Bäume dahinter, wird zunehmend unwichtig. Sie ist austauschbar; wenn der Boden erschöpft ist, zieht man weiter und brennt seine Lichtungen woanders in den Wald.
Modern Times
Dieses Modell einer transportablen Umwelt bringt eine enorme Flexibilität mit sich und damit eine enorme Effektivität. Aber die wirklich entscheidende Beschleunigung hat es erst mit der Steigerung der technischen Möglichkeiten erfahren, die mit der Industriegesellschaft in die Welt kamen. Die Arbeits- und Lebenswelten werden zusehends modularer, die Arbeiter am Fließband, die Ernährung in Dosen. Diese Modularität hat bekanntlich in unserer Zeit ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden.
Flexibilität ist alles, das Ideal ist der Power Performer, der jederzeit überall auf der Welt im Einsatz sein kann. Seinen Freundes- und Bekanntenkreis nimmt er auf Smartphone, i-Pad und Laptop mit. Und zunehmend trifft er überall auf die selben Hotels, die selben Fast-Food-Ketten, dieselben Fernsehprogramme. Eine solche Persönlichkeit ist in sich abgekapselt, sein Bewusstsein kommuniziert über eine Reihe hocheffektiver Anschlüsse, mit denen es sich überall in eine vorbereitete und normierte Umgebung einklinkt. Das ist sicher (noch) nicht die Norm für alle Menschen, aber für einen Steinzeitjäger vor 30 000 Jahren wären die Unterschiede zwischen dieser Übertreibung und unserem tatsächlichen Leben kaum sichtbar.
Ich bleibe beim Bild dieser „Anschlüsse“. Wenn ich mir den geistigen Zustand von uns heutigen Menschen vorstelle, dann sehe ich vor meinem inneren Auge tatsächlich eine Kapsel, eine Kugel, die unser „Ich“ umschließt und aus der eine Reihe von Kabeln mit USB-Anschlüssen hervorsprießt, ein freischwebendes Etwas, das sich überall auf der Welt einklinken und sofort loslegen kann, natürlich falls die richtigen Stecker vor Ort sind.
Das große Raster
In gewisser Weise ist dies auch ein notwendiger Selbstschutz, da die Reizüberflutung in unserer Welt so groß ist, dass ich meinew Eindrücke sieben und rastern muss. Es hört sich zwar sehr spekulativ an, ist aber letztlich eine ziemlich banale Einsicht, wenn ich sage, dass unser Raster die Welt sowohl horizontal als auch vertikal teilt.
Horizontal, das heißt, dass ich bestimmte Bestandteile meines Erlebens sehr nahe um mich gruppiere, wo ich ihnen starke Beachtung schenken kann und andere ganz weit von mir weg gegen den Horizont schiebe, wo ich sie kaum oder gar nicht wahrnehme. Vertikal, das heißt, dass ich sie in Kategorien einteile, in beruflich und privat, positiv und negativ, normal und außergewöhnlich usw., um nur einmal die gröbsten Unterteilungen zu nennen.
So weit kann sind meine Überlegungen sicher mehrheitsfähig. Dass wir einen größeren Bedarf an der Rasterung der Welt haben als vor 30000 Jahren, ist sicher einsichtig. Auch, dass dies unser Bild von der Welt verändert und vielleicht an einer Stelle einen gewissen Verlust an Lebenqualität mit sich bringt. Aber wird dies nicht bei weitem wettgemacht durch eine effektiveres Verständnis unserer Umgebung, durch Werkzeuge, mit denen wir die Dinge der Welt schnell und einfach verstehen?
Die große Falle
Was schwer zu glauben ist, ist die Tatsache, dass dies einen tiefen Verlust unserer Verwurzelung in dieser Welt bedeutet. Dass mit der Zeit wird die Welt in unserem Geist ersetzt durch dieses Raster, durch eine nicht allzu große Ansammlung einzelner Schachteln, in die alles einsortiert ist, was wir gelernt haben, als unsere Welt zu betrachten. Und was nicht darin hinein passt, schwebt grau und fast unsichtbar am Rande.
Und dass dies auf Dauer viel mehr psychische Energie verschlingt als erspart. Wenn wir die Welt nur mehr über unsere Kategorien verstehen können, sind wir gezwungen, ständig alles in eine dieser Schachteln einzuordnen und darin festzuhalten oder zu verdrängen und aus unserem Weltbild fernzuhalten. Dass wir unser Leben verderben, indem wir ständig daran arbeiten, unsere Wahrnehmung der Welt zu verdunkeln und verzwergen. Dass wir mit ihrer Rasterung in eine Falle getappt sind, in der wir gefangen sind, die mehr und mehr unserer geistigen Kraft an sich zieht und uns dafür nichts zurückgibt als eine reduzierte Sicht auf die Welt
Dies wären die beiden ersten edlen Wahrheiten des Monotheismus: Wir haben unsere Wurzeln in der Welt verloren. Ursache ist die Rasterung der Welt.
Und wie im Buddhismus ist diese Diagnose nicht zu verstehen ohne die Therapie. Davon mehr im nächsten Post.
Der nächste Post des Basisdiskurses trägt den Arbeitstitel „Was tun, wenn die Grundlagen entfallen?„. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie hier den Newsletter.
[…] In einem früheren Post habe ich bereits erste Überlegungen angestellt zum Thema der „vier edlen Wahrheiten“ des Monotheismus. Damit nehme ich natürlich Bezug auf die vier edlen Wahrheiten des Buddhismus, die als die grundlegende Aussage dieser Religion gelten. Sie gehen aus vom Menschen, von seiner Natur und seinen Möglichkeiten. Wenn ich nun diesen Ansatz auf den Monotheismus übertrage, so entferne ich mich damit sehr weit von seiner ersten Aussage, dem „es gibt nur einen Gott“. […]