Basisdiskurs Religion IV
Vor einiger Zeit startete das deutsche Handwerk eine Werbekampagne mit dem Leitspruch: „Am Anfang war Himmel und Erde, den ganzen Rest haben wir gemacht.“ Zur Illustration wurden ein paar Plakate aufgelegt, auf denen diverse Paare im angeblichen Steinzeitlook das Elend einer Welt ohne Technik demonstrieren. Interessant ist dabei vor allem die Mimik der Darsteller, mit der sie dieses Elend signalisieren. Es ist nicht Hunger oder Krankheit, was sie projizieren, sondern absolute Desorientierung. Sie sind verloren in diesem sinnlosen Brei von „Himmel und Erde“ ohne das ordnende Gerüst der Technik.
Religion als Ordnungsprinzip?
Stark, aber nicht zu stark vereinfacht, ist dies in etwa die Rolle, die die Religion im Leben unserer Vorfahren als Jäger und Sammler spielen soll. Sie soll ihrem Alltag, der sich in einem undifferenzierten „Himmel und Erde“ abspielt, Sinn und Struktur verleihen. Sicher ist dies ein Aspekt, aber, wie ich glaube, nicht der entscheidende. Ich denke, dass dies eine Projektion unserer eigenen Denkweise darstellt. Wir zergliedern die Welt in Kategorien und Hierarchien, weil dies unserer arbeitsteiligen Existenz entspricht, arbeitsteilig nicht nur in Produktion und Dienstleistung, sondern auch in unserer Erkenntnis der Welt. Dies zeigt sich ganz extrem in der Aufteilung von Wissenschaft nicht nur in Einzeldisziplinen (Physik, Germanistik), sondern weiter in Spezialgebiete (Althochdeutsch, Linguistik).
Diese ordnende Zergliederung der Welt ist aber keine unabdingbare Konstante des menschlichen Geistes. Ich kann mir das nur allzu schmerzhaft klarmachen, indem ich gegen kleinere Kinder „Memory“ spiele. Vor allem, wenn die ordentlich gelegten Karten verrutschen, habe ich keine Chance mehr. Im Endspiel sehe ich dann nur noch fassungslos zu, wie die lieben Kleinen ein Paar nach dem anderen einsammeln. Während ich so Leitsätze brauche wie „Bild von Schuh = dritte Reihe, fünfte Karte“, kann sich dieses penetrante Balg da offensichtlich gut hundert Karten eins zu eins merken.
Das additive Denken
In einer solchen Situation merke ich nur allzu gut, was Geisteswissenschaftler mit additivem und situativen Denken meinen, wenn sie von schriftlosen Völkern reden. Ich habe gehört, dass Angehörige von Dschungelvölkern in einem Umkreis von ca. 20 km jeden Baum kennen und jenseits dieser Zone gar nichts. Das lernt man nicht systematisch, sondern indem man sich einfach alles merkt, so nebenbei.
So nebenbei, das bedeutet, ohne Druck oder Lernprogramm, und das heißt auch, dass das „sich merken“ von Details in gewisser Weise eine lustbetonte Sache ist. Auch das kann ich am Besten an Kindern sehen, die sich eine irrsinnige Menge an Einzelheiten einverleiben können, wenn es um so etwas wie „Pokemon“ geht. In diesem Spieleprogramm treten gefühlte Hundertschaften von Phantasietierchen gegeneinander an, jedes mit einem so leicht zu merkenden Namen wie Reshiram oder Zekrom und mit mindestens einer Spezialfähigkeit wie Kopfstoß oder Feuerspucken und einer Reihe von Upgrades dazu. Und wenn man zwei Fans im Bus zuhört, wie sie sich darüber austauschen, ist ganz deutlich zu spüren, welchen Reiz gerade diese riesige Fülle von Details für sie ausstrahlt.
Die Aneignung der Welt
In diesem umfassenden Detailwissen liegt etwas, das ich die Aneignung der Welt nennen möchte. Ich gehe durch mein Land, meine Welt und kenne hier einfach alles, jeden Baum, jedes Rinnsal, jeden Stein. (Im Gegensatz dazu beschränkt sich meine Kenntnis der Welt zunehmend auf Vermutungen, mit welchem Keyword ich das Gewünschte wahrscheinlich herbei googlen kann.) Und mit diesem Wissen bin ich hier zuhause, gehört mir dieses Land, es ist „mein“ Land und deshalb auch meine Welt.
Welche Rolle spielt nun das, was wir Religion nennen, in dieser Welt? Zunächst einmal ist „Religion“ hier nicht eine vom Rest der Kultur klar abgegrenzte Tätigkeit. Sie geht über in Phänomene wie Magie, Tabu, soziale Rituale und Kunst. Und dieser kulturelle Komplex begleitet den Menschen von Anfang an, die eindrucksvollen Malereien in der Chauvet-Höhle sind 30 000 Jahre alt.
Welchen Sinn haben also diese Tätigkeiten? Welche Funktion erfüllt es, wenn z.B. ein merkwürdig geformter Baum zum Sitz eines Geistes erklärt wird und dort kleine Opfer deponiert werden? Es gibt scharfsinnige Überlegungen, nach denen solche Rituale als Baustein der Gruppenidentität oder als Ausweis sozialer Zuverlässigkeit wirken. Spannender finde ich die Frage, was sie zur Erkenntnis der Welt beitragen. Immerhin wird ja dieser Geist dadurch zur Welt hinzu gefügt, wird ein Teil von ihr.
Ich, Bürger der Welt
Ich denke, dass solche Vorstellungen zuerst einmal als Markierungen dienen, sie verleihen sozusagen der Welt einen gewissen Rhythmus, dienen als Gedächtnisstütze, an der sich die Details der Umgebung orientieren können.
Darüber hinaus sind sie einfach ein Ornament, eine Ausschmückung der Welt, ebenso wie die Höhlenmalereien. Die Welt ist einfach spannender, es lebt sich auf diese Art besser in ihr.
Ich möchte diese Überlegungen aber noch ein bisschen weiter spinnen. Diese Freude am Ornament ist, wie ich denke, ein notwendiger Überschuss der Weltaneignung. Die Freude an der Welt, an den Dingen, an den vielen Details, kann sich nicht einfach einbremsen an den Grenzen dessen, was wir als wirklich, als gegenständlich ansehen. Täte sie es, würde sie den notwendigen Schwung verlieren, den Enthusiasmus, dessen diese Aneignung bedarf, um sich soviel wie möglich einzuverleiben, alles, was der Mensch zum Leben bedarf.
Und noch ein letzter Gedanke: Dadurch, dass ich meine geistigen Schöpfungen in die Welt hinein projiziere, mache ich sie ein Stück weit menschenähnlich. Und das heißt auch, dass ich selbst weltähnlich werde, dass ich mir bestätige, dass ich zu diesem Land gehöre, dass ich das Bürgerrecht in dieser Welt habe. Dies, meinen Platz in der Welt zu definieren, ist eine Funktion, die später, in der Diskussion des Monotheismus, eine entscheidende Rolle spielen wird.
Der nächste Post des Basisdiskurses trägt den Arbeitstitel „Die große Pyramide„. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie den Newsletter.