Basisdiskurs Religion II
Was unterscheidet die Theologie, wörtlich übersetzt die „Wissenschaft von Gott“ von anderen Wissenschaften? Es gibt viele Antworten auf diese Frage, fromme, freundliche und feindliche. Zu Beginn meines Unternehmens, der systematischen Rekonstruktion des Glaubens in einer Reihe von Posts, lohnt sich ein kurzer Blick auf diese Frage aus der Sicht der Wissenschaftstheorie
Context of discovery, context of justification
Dieses Begriffspaar, im Deutschen „Entdeckungszusammenhang“ und „Begründungszusammenhang“ genannt, wurde 1938 von dem Wissenschaftsphilosophen Hans Reichenbach in die Welt gesetzt. Wie so oft in der neueren Philosophie wurde damit ein eigentlich trivialer Sachverhalt zum ersten Mal klar benannt und untersucht. Es handelt sich um die Tatsache, dass die Entwicklung oder Entdeckung neuer wissenschaftlicher Theorien meist ganz anders verläuft als ihre spätere Darlegung und Rechtfertigung.
Berühmt ist die Entdeckung des Penicillins. Der Forscher Alexander Fleming hatte Kulturen von Bakterien angesetzt, die dann von einem Schimmelpilz befallen wurden und als unbrauchbar weggeworfen werden sollten. Aus reiner (Forscher-) Neugier sah sich Fleming die Kulturen noch einmal unter dem Mikroskop an und sah, dass der Schimmel dem Anschein nach die Bakterien angegriffen und vernichtet hatte. Dieser Beginn, dieser context of discovery war von völlig anderer Art als die spätere Bestätigung durch systematische Experimente, der wissenschaftlichen Darstellung in Fachblättern, usw. also dem context of justification.
Hans Reichenbach zog daraus den verständlichen Schluss, dass der context of discovery zu intuitiv, unsystematisch, wertend usw. war, um an ihm die Prinzipien der Wissenschaft untersuchen und herausarbeiten zu können. Nur der systematische context of justification ist es, der eigentlich die Wissenschaft ausmacht.
Credo ut intelligam
Auf deutsch: „Ich glaube, um zu erkennen“. Dies war die Parole des frühmittelalterlichen Denkers Anselm von Canterbury. Dieser Satz kann auf verschiedene Arten verstanden werden und eine davon verweist eben auf die den context of discovery (Glauben) und den context of justification (Erkennen). Glaube geschieht auf ganz unterschiedliche, persönliche Art. Von ihm sollte ich aber fortschreiten zu einem Erkennen, zum Durchdringen der Glaubensinhalte und ihrer Überführung in ein zusammenhängendes Verständnis, das ich notfalls auch darlegen und verteidigen kann.
Davon ausgehend, könnte ich mein Unternehmen folgendermaßen einordnen: Ich gehe vom (christlichen) Glauben aus und schreite fort zum Erkennen, zu seiner systematischen Darlegung z.B. in meinem Buch oder in diesem Blog. Und damit würde ich einfach nachvollziehen, was auch in der Naturwissenschaft geschieht: Der Beginn im context of discovery und das Fortschreiten zum context of justification.
Dies ist eine verführerische Sicht, die jedoch in einem zentralen Punkt nicht funktioniert.
Erkennen genügt nicht. Ohne ist aber auch nichts.
In den Naturwissenschaften ergibt sich die Praxis aus dem context of justification: Die weitere Forschung, die Experimente, die darauf aufbauen, neue Gebiete, die mithilfe der neuen Theorie erschlossen werden usw. Kein Forscher in der Nachfolge Flemings ließ einfach Bakterienkulturen herumstehen in der Hoffnung auf spontanen Befall durch neue Schimmelpilze. Vielmehr ging er immer von den systematischen Ergebnissen und Methoden der fertigen Theorie aus.
In Sachen des Glaubens ist es nicht ganz so einfach. Eine systematische, in Teilen vielleicht wissenschaftsähnliche Darstellung, wie ich sie in dieser Serie geben werde, ist nützlich. Sie hat einen Nutzen für den neugierigen Außenseiter, der nach einer für ihn verständlichen Erklärung sucht, was es denn mit dem Christentum auf sich hat. Sie hat einen anderen Nutzen für den Gläubigen.
Welchen, das kommt auf den einzelnen Menschen an. Für mich selbst ist die theoretische Erkenntnis der Grundlagen sehr nahe an einem spirituellen oder vielleicht mystischen Erlebnis oder wie auch immer man das nennen will. Es ist für mich nur ein kurzer Weg von einem umfassenden Verständnis der Allmacht zu einem festen Angelpunkt in meinem eigenen Leben und Bewusstsein. Aber auch für mich kann ich nicht auf den, intuitiven und unsystematischen Glauben verzichten, wenn es um die Anwendung in meinem eigenen Leben geht. Den context of discovery kann ich (und will ich) als Glaubender nie ganz verlassen. Für andere ist das sicher noch stärker der Fall.
Wie ist es aber, wenn jemand eher einem enthusiastischen Verständnis des Glaubens zuneigt und völlig überzeugt behauptet, dass er all diese Systematik nicht nötig hat? Ich würde antworten, dass der glaubende Mensch auf jeden Fall daraus Folgendes gewinnt:
- Er muss nicht mehr seinen Glauben abschotten gegen seine naturwissenschaftliche Betrachtung der Welt, wenn er weiß, wie das alles zusammen passt.
- Er muss nicht mehr die verschiedenen Tendenzen und Richtungen in der Bibel gegeneinander abschotten, wenn er die zentralen Botschaften kennt.
Vor allem aber behaupte ich, dass die Kenntnis des inneren Zusammenhangs der verschiedenen Teile, des altjüdischen Monotheismus, der Predigt des historischen Jesus und der Lehre des Paulus, dem Glauben ganz allgemein eine höhere Qualität verleiht. Jedem Glauben. Jedem Glauben, der sich ernst nimmt.
Der nächste Post des Basisdiskurses trägt den Titel „Das Land, die Welt (Eins)„. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie den Newsletter.
Letzter Abschnitt:
Es stellt sich natürlich (in der Tat: natürlich!) die Frage:
Wozu überhaupt Gottesglauben? Wem hilft er? Und wozu?