Sep 222012
 

Basisdiskurs Religion XXV >>>mehr

Ich habe inzwischen festgestellt, dass ich mit meinem „Basisdiskurs Religion“ etwas durcheinander gekommen bin. Die Dinge, die mir dazu einfallen, kommen leider nicht in der geordneten Reihenfolge, die das Thema benötigen würde. Ich muss mich wohl damit abfinden. Vielleicht bringe ich das Ganze irgendwann einmal später in eine geordnetere Form.

Heute möchte ich einen Aspekt nachholen, den ich die ganze Zeit vernachlässigt habe. Ich halte die Achsenzeit und die verschiedenen Konzepte die damals, ca. 600 v. Chr., entstanden sind, für den Schlüssel, um Religion überhaupt und das Christentum speziell zu verstehen. Ich habe aus dieser Zeit Konfuzius, Buddha und natürlich vor allem Hiob und Deuterojesaias besprochen. Es wird Zeit, zumindest einen Blick auf einen weiteren Brennpunkt des damaligen Denkens zu legen: Auf Griechenland, und dort auf die Anfänge um ca. 700 v. Chr., also vor der klassischen Philosophie.

Der griechische Aufbruch

Dem Neuaufbruch der Zivilisation in diesem Lande in dieser Epoche waren immer neue Eroberungs- und Einwanderungswellen vorangegangen, die die ansässigen Kulturen unter Druck setzten und zerstörten. Jetzt aber entwickelten sich in diesem Land neue und große Kräfte, die stürmisch nach außen drängten.

Kolonien

Das wichtigste Merkmal dieses Aufbruchs war die schnelle Gründung vieler Kolonien, die sich zuletzt von der Krim bis nach Sizilien ausgebreitet hatten. Diese waren nicht, wie die europäischen Kolonien der Neuzeit, großflächige Räume, in denen der Reichtum und die Arbeitskraft unterlegener Völker ausgebeutet wurden, sondern kleinere Stadtstaaten, gegründet und besiedelt von griechischen Auswanderern.

Dort galten nicht mehr die alten Gesellschaftsordnungen mit ihren Erb- oder Wahlkönigen oder eine kleinen adeligen Gruppe an der Spitze. Neue Rechtsordnungen und neue Formen der politischen Macht wurden entworfen und erprobt, teilweise unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

Kolonisten

Natürlich weiß ich nicht wirklich Bescheid über die Geisteshaltung eines Menschen, der vor über 2500 Jahren aus seiner Heimatstadt aus über das Meer fuhr und dort auf fremder Erde einen neuen Staat aus eigenem Entwurf gründete. Es war aber sicher ein neuer Typus von Mensch, für den dies eine selbstverständliche Lebensweise war. Er unterschied sich von den bisherigen Untertanen der alten Gottkönige und natürlich erst recht von dem Mitglied einer Jäger- und Sammlerkultur.

Denn welches Geflecht von Erklärungen der Welt, welcher Vorrat an Sinngebungen für die einzelnen Situationen des Lebens hätte all die Gegensätze einer Welt abdecken können, in der ein Mensch seine Heimat wechselte wie sein Hemd?

Beginn der Philosophie

Und so begannen eine Reihe von Leuten, die sogenannten Naturphilosophen, nach all den Dingen zu fragen, die bisher selbstverständlich waren: „Was ist das Wesen der Welt? Aus was bestehen die Dinge um mich herum und wie sind sie erstanden?“ Wer ernsthaft so fragt, den befriedigen die alten Geschichten von welterschaffenden Göttern nicht mehr und von der ewigen Ordnung aller Dinge, in die der Mensch sich fraglos einfügen muss, wenn er zu den Menschen gehören will.

Die Dichter

Ausdruck fand das neue Lebensgefühl dieser Zeit in der Dichtkunst, die bei den alten Griechen schon seit langem in hohem Ansehen stand. Insbesondere die Gesänge Homers, die noch vor dem Anbruch der neuen Kolonisierungswelle entstanden, wurden ehrfürchtig aufgenommen und weiter gegeben.

Homer

In den beiden Epen Homers, der Ilias und der Odyssee, scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Zwar erzählen sie von Kriegen, die weit übers Meer an fremde Küsten getragen werden, aber auch sie unterliegen unterliegen, wie alle Welt, dem Willen der Götter. Diese Götter sind in einer überschaubaren Familie organisiert, in der jeder Gott seinen bestimmten Platz und seine bestimmte Aufgabe hat und im günstigen Fall durch Opfer gnädig gestimmt werden kann. All das unübersichtliche Geschehen dieser Welt kann zum großen Teil auf die Zustände in dieser kleinen Überwelt zurückgeführt werden.

Parzen

Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass bei Homer über den Göttern und den Menschen die Parzen thronen, die unheimlichen und unerbittlichen Kräfte des Schicksals. Sie werfen letzten Endes die Lose, von denen die großen Entscheidungen abhängen und deren Fall niemand ändern oder auch nur verstehen kann. Für mich zeigt sich hier eine ferne Ahnung des Monotheismus von Deuterojesaias: Die Vorstellung einer Macht, die unwiderstehlich und völlig unabhängig von allen Einflüssen den Lauf der Welt regiert.

Archilochos

Aber nun, um 700 v. Chr., beginnt eine bisher unbekannte Art von Dichtung. Der erste uns bekannte Vertreter dieser neuen Kunst war Archilochos von Paros, ein kriegerischer Kaufmann, der in der neuen Kolonie von Thassos sein Glück suchte. Sich selbst beschrieb er als Diener sowohl des Ares als auch der Musen, also sowohl des schrecklichen Kriegsgottes als auch der Spenderinnen der Kunst. Aus diesem schroffen Gegensatz speist sich sein Lebensgefühl, das sich in einem bisher nicht gekannten Maß auf die Kräfte des eigenen Geistes und des eigenen Herzens stützen muss. Damit wird aber auch die vielfältige und unsichere Natur des Menschen zum Vorschein.

Der Thymos

Bereits Homer unteschied zwischen den einzelnen Bestandteilen des menschlichen Innenlebens und nannte den Verstands „Phren“, die Gefühlswelt aber den „Thymos“, wobei der Thymos das eigentliche Zentrum, die Seele des Menschen darstellt.

Schon vor Archilochos war es gängige Erkenntnis, dass der Phren, die Überzeugungen und Überlegungen des Menschen, durch äußere Umstände gewandelt werden konnte. Archilochos aber sah, dass auch der Thymos, Herz und Seele des Menschen, durch seine Umgebung und seine Erlebnisse geprägt und verändert wird, wie er in einem seiner Gedichte sagt.

Flut und Ebbe

Bereits bei Homer reden die Helden ihrem Herzen zu und ermahnen es, standhaft zu sein. Aber erst bei Archilochos wird das Herz, der Thymos, zu einem so gefährdeten, wechselhaften Ding wie in diesen Zeilen (Übersetzung von mir):

Mein Herz, mein Herz, du wehrst dich nicht und kochst im Unglück.
Heraus und in den Kampf! Wirf deine harte Brust
dem Hinterhalt des Feinds entgegen, schließ dich zusammen
und halte stand! Und fichst du bis zum Sieg, halt still
und schrei nicht fremde Ohren voll davon. Doch unterliegst du
verkriech dich heulend nicht nach Haus. Begrüße Glück, ertrage Schmerz in deinen Grenzen.
Und sieh, wie Flut und Ebbe über Menschen herrschen.

Hier spricht nicht die abgeklärte Erkenntnis und der scharf untersuchende Blick eines Menschen, der über den Dingen steht, wie Dschuang Dsi, sondern das Gefühl von jemand, der sowohl den Musen als auch dem Krieg dient, der das Schicksal der Menschen zwar als Dichter versteht, aber auch als Krieger meistern muss.

Der Anti-Konfuzius

Ich selbst sehe in Archilochos einen Archetyp des griechischen Geistes. Er verbindet eine Bejahung der Dinge, wie sie sind, mit einem tiefen Einblick in die Natur dieser Dinge. Wohl deshalb wurde die daraus entstandene Philosophie vor allem in optimistischen Zeiten geschätzt und anderen Ansätzen als überlegen angesehen, z.B. dem des Christentums.

Alles ist gut

In einem seiner Gedichte freut sich Archilochos z.B. auf einen bevorstehenden Krieg mit einer Streitmacht, die noch auf die gute alte Art kämpft, zu Fuß und Mann gegen Mann anstatt neumodischen Firlefanz wie Bogenschützen einzusetzen. Ich finde diesen Haudegen durchaus sympathisch, allerdings scheint mir ein solches Lebensgefühl nicht als Grundlage für eine wirklich tiefe Erkenntnis der menschlichen Situation zu taugen.

Weder Buddha noch Hiob

Sowohl Buddha als auch Hiob als die literarischen Schlüsselfigur des Monotheismus beginnen mit der Frage: „Was bleibt dem Menschen, wenn er alles verloren hat?“ Menschen vom Schlage eines Archilochos würden darin wohl darin die Reaktion dessen sehen, der sich heulend nach Hause verkriecht und auf die sauren Trauben der Welt verzichtet, nicht ohne sich eine aufwendige Weltanschauung zu zimmern, die diese seine Flucht mit dem Schimmer der wahren Erkenntnis vergoldet.

Um mir eine kühne Schlussfigur zu leisten …

Sowohl Archilochos als auch Konfuzius bejahen die Welt, wie sie ist. Konfuzius lehrt, dass sie grundsätzlich in Ordnung wäre, wenn die Menschen nur wieder zu den einfachen Regeln zurück kehren würde, von denen sie abgekommen ist.

Archilochos dagegen besingt zwar ab und zu das gute Alte, lebt aber sonst in einem Geist, der das Neue, die Expansion, den Aufbruch zu neuen Ufern, realen und geistigen predigt und lebt. Sicher würde uns allen ein Prise sowohl von Konfuzius als auch von Archilochos gut tun. Wer aber wirklich in die Tiefe will, sollte sich an Buddha oder Hiob halten.
Der nächste Post des Basisdiskurses trägt den Titel „Sein und Sollen I“. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie hier den Newsletter.

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