Aug 182012
 

Wieder hat es einige Zeit gedauert bis zu diesem Post. Gründe dafür sind erstens die immer noch ziemlich raue See, die mein Lebenschiff in diesem Augenblick durchquert (was ’ne poetische Metapher) und zweitens ein sehr spannendes und dickes Buch, das ich zur Zeit lese: „Why the West rules – for now“, also „Warum der Westen herrscht – jetzt noch“, von Ian Morris.

Was zuerst einmal sehr unterhaltend ist, der ganz, ganz große Ansatz des Buches: Schluss mit all dem Klein-Klein von kulturhistorischen Untersuchungen, die sich auf ein paar lächerliche Jahrtausende und Kontinente beschränken! Was der Autor propagiert, ist eine umfassende Sicht auf die Dinge, die vor 2,5 Millionen Jahren ansetzt und den ganzen Globus mit sämtlichen wirtschaftlichen, kulturellen, ökologischen, geografischen, medizinischen, technischen und militärischen Faktoren umfasst. Für das Thema dieses Blogs ist das Ergebnis allerdings ziemlich ernüchternd.

Die großen Linien

Gemäß diesem Buch hat es seit mindestens 50 000 Jahren auf der Erde zwei große Zentren gegeben, das östliche und das westliche. Hierbei zählt der Autor aufgrund ausführlicher Begründungen den Nahen Osten zum westlichen Zentrum, während das östliche mehr oder weniger den Raum des heutigen China umfasst. Diese sind gekennzeichnet durch Phasen gesellschaftlicher Entwicklungen, die in gewissen Abständen an ihre Grenzen stoßen und dann nach einem Zusammenbruch neu beginnen.

Die Achsenzeit(en)

Zunächst einmal habe ich mich darüber gefreut, dass auch dieser Autor die von mir sehr hoch gehandelte Idee einer Achsenzeit um ca. 600 v. Chr. vertritt (siehe dieser Post), einer Zeit, in der der Zusammenbruch alter Ordnungen neue Gedanken ins Leben ruft, wie den Buddhismus und den altjüdischen Monotheismus. Zusätzlich spricht er auch von einer zweiten Achsenzeit um etwa 400 n. Chr., in der sich neue Variationen der Ideen aus der ersten durchsetzten. Dazu zählt er das Christentum, den Mahayana-Buddhismus und zuletzt den Islam.

Mohammed, na ja, vielleicht, aber sonst?

Deprimierend ist allerdings seine Einschätzung der Wichtigkeit dieser Philosophien und Religionen für die großen Entwicklungslinien der Menschheit: Höflich gesagt, tendiert sie für ihn gegen Null (er sagt das nicht ausdrücklich, aber das ergibt sich aus seinen Ausführungen).

Mohammed gesteht er als einzigem ein gewisse Bedeutung zu, als Anstifter der arabischen Expansion. Aber das Resultat war die instabile Herrschaft der Kalifen, die bald in Emirate zerfiel, die dann auch nichts weiter waren als sich gegenseitig bekriegende Klein- und Mittelstaaten, wie es sie dutzendweise gab. Die Bekehrung der einfallenden Ottomanen zum Islam z.B. erwähnt er kaum, auf die nachfolgende Geschichte des Osmanischen Reiches hatte sie jedenfalls keinen Einfluss.

Überall das Selbe in Grün

Aufgrund seines großen Überblicks hat er für diese seine Haltung gute Argumente: Im Osten Eurasiens, im Gebiet des heutigen China, hat es vielfach zur gleichen Zeit gleiche Entwicklungen gegeben, nur eben ganz ohne Christentum und Islam. Das für mich eindrucksvollste Beispiel: Zu Zeiten des europäischen Frühmittelalters, als während des gesellschaftlichen Zerfalls die Klöster ihre Rolle spielten als organisatorische und kulturelle Zentren, entstanden unter ähnlichen Bedingungen derartige Klöster auch in China, geführt von Mönchen des Mahayana-Buddismus.

Was die Menschen wirklich bewegt

Ian Morris sieht – sicher zu Recht – den Einfluss von Einzelpersönlichkeiten auf die Geschichte als nicht entscheidend an. Wichtig sind gesamte Gesellschaften mit ihren Antriebskräften, und die sind seit Beginn der Menschheit immer die gleichen: Gier, Faulheit und Furcht treiben sie vorwärts und die immer gleichen fünf (ja, fünf) Reiter der Apokalypse werfen sie wieder zurück, nämlich Hungersnöte, Epidemien, unkontrollierte Wanderbewegungen, Zusammenbruch staatlicher Ordnung und Klimawechsel.

Hat er recht?

Eine gewisse Grundskepsis bleibt mir beim Lesen des Buches. Vor allem macht mir der Autor zu viele Fehler, was die Geschichte angeht. Es sind nur Kleinigkeiten, die definitiv falsch sind, die ich persönlich allerdings zur historischen Allgemeinbildung rechnen würde (so war es z.B. nicht die russische Hauptflotte, die die Japaner bei Tsushima vernichteten, sondern die veraltete Übungsflotte aus der Ostsee). Angesichts der gesunden Skepsis, die Morris gegenüber vielen zu selbstsicheren Ergebnissen z.B. aus der Paläoanthropologie an den Tag legt, übernimmt er mir allzu vollmundig angebliche geschichtliche Tatsachen, die ihm in den Kram passen.

Aber erstens kann ich einen so großen Bogen, wie ihn der Autor schlägt, gleich gar nicht erst anfangen, wenn ich mich um derartiges kleinkariertes Gemaule kümmern würde. Und zweitens muss das alles bestimmt viel differenzierter gesehen werden, aber ein wirklich wesentlich anderes Ergebnis wird wohl nicht herauskommen, insbesondere keine Entwicklungsgeschichte der Menschheit, in der z.B. das Christentum wirklich eine wichtige Rolle spielen würde.

Das Fremde

Dies ist nun keine ganz neue Erkenntnis. Kurt Tucholsky hat einmal gesagt, dass für ihn das Hauptargument gegen das Christentum sei, dass es nichts wirklich verändert hat. Dies spiegelt sich auch in der Botschaft Jesu vom kommenden Gottesreich: Damit es wirklich gut wird, muss Gott selbst mit Feuer vom Himmel her eingreifen.

Um eine alte Sufiweisheit zu paraphrasieren: Das Christentum ist als ein Fremder in die Welt gekommen und wird als ein Fremder wieder von ihm gehen.

Sehr weise, aber für mich manchmal doch ein bisschen deprimierend.

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  One Response to “Das große Bild”

  1. Gier, Faulheit und Furcht. Neue Erkenntnis?
    Unwissenheit, Gier und Haß, sagte der Buddha.
    Was ist deprimierend? Die Erkenntnis, dass es keinen „Fortschritt“ gibt?
    Und wenn es keinen gibt (die Biologie zum Beispiel gibt zum Thema Evolution sehr verschiedene Antworten) warum deprimiert das dann?
    In der Taklamakan gab es wunderbare Städte, die untergingen, weil das Wasser der Oasenflüsse sich irgendwann einen anderen Weg suchte. Daran waren diese Kulturen nichtmal „selber schuld“ (wie wir uns das ja mit unseren Problemen immer vorwerfen). War das der „Sinn“ des Lebens dieser Menschen, die unter anderem vielleicht Schönes schufen und Liebes taten, aber deren Erbe unterm Sand begraben und vergessen liegt? Was mit den Stadtkulturen Nordamerikas, die von den europäischen Seuchen ausgelöscht wurden, bevor nur ein Europäer sie überhaupt zu Gesicht bekam?
    Für mich persönlich heißt es, dem Augenblick, der Gegenwart seine Würde geben und versuchen, mich selbst zu entwickeln. (Wie sich das auf das Kollektiv auswirkt, da fehlt mir der Überblick.)
    Wenn Sie versuchen, hier das Christentum klar zu durchdenken und seinen Wert herauszuarbeiten, dann tun Sie eben gerade hier in dem historischen Moment, an dem Sie stehen, Ihr Bestes. Mehr geht eh nie.

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