Basisdiskurs Religion XVII >>>mehr
Ich war im Zweifel, ob ich die folgenden Gedanken noch einmal als Diskussion zu meinem vorletzten Post bringen sollte. Allerdings sieht es so aus, als ob dieser Themenkomplex doch noch nicht abgearbeitet ist. Deshalb unternehme ich den Versuch, das „Experiversum“ noch einmal schärfer in den Blick zu nehmen.
Wie alles begann
Ich bin in meinem damaligen Post von einem Szenario ausgegangen, in dem eine große Menge von Meßstationen herumläuft, die eine Fülle unzusammenhängender Meßdaten einsammeln. Diese Meßstationen stellen natürlich uns Menschen dar. Und ich machte darauf aufmerksam, dass man sich keine wissenschaftliche Theore vorstellen könne, die Gesamtheit dieser Daten aufnimmt und integriert. Es gibt einen wissenschaftlichen Grund dafür: Das menschliche Leben, die menschliche Erfahrung ist ein Komplex chaotischer und stochastischer Systeme, die de facto nicht berechenbar und in keine endliche Darstellung zu integrieren sind.
Diese Gesamtheit, dieses Reich der unmittelbaren Erfahrungen, habe ich das Experiversum genannt. Dieses Experiversum der Bereich, in dem die Gottesaxiome greifen und Sinn ergeben. Beides zusammen ergibt ein formalisiertes Modell, eine Art technischer Blaupause des altjüdischen Monotheismus in seiner entwickelten Form (bei Jesaias und Hiob). Es ist nur ein Modell, es kann die Kraft und die Lebenskunst nicht vermitteln, die in dieser Idee liegt. Aber es kann dazu dienen, das Verhältnis zu anderen, insbesondere naturwissenschaftlichen Beschreibungen der Wirklichkeit zu durchdenken. Und es kann dazu dienen, sich scharf und unmissverständlich gegen andere Versionen des Glaubens an den einen Gott abzugrenzen.
Vor allem gegen die eines Gottes, der den Lauf der Welt normalerweise den „Naturgesetzen“ überlässt und nur fallweise eingreift, um daran in seinem Sinne herumzuschrauben.
Drei Argumentationsstränge:
Um die darauf folgende Diskussion noch einmal aufzufächern:
Dies war ein Strang meiner Argumentation:
(A) Das Experiversum ist mit den Methoden der Wissenschaft nicht zu beschreiben.
Der andere Strang war damit verwandt, aber mit einem anderen Thema:
(B1) Es kann auch nicht auf die Naturwissenschaft zurückgeführt werden oder:
(B2) Durch die Naturwissenschaft widerlegt werden / im Widerspruch dazu stehen.
Physik und Alles
Beginnen wir mit (A):
Unser Experiversum, die Welt in der wir leben und die wir erfahren, sie ist doch ein Teil der physikalischen Welt, der Welt der Naturgesetze wie z.B. der Relativitätstheorie. Wie kann ich dann behaupten, dass sie mit den Methoden der Wissenschaft nicht zu beschreiben ist?
Weil keine solche Beschreibung tatsächlich das Gesamt meiner Erfahrungen umfassen wird. Das Gefühl der Tastatur unter meinen Fingern, das fantastische Blau des Himmels hinter dem flammenden Grün des Mooses an einem Baumstamm, das Glitzern des Flusses, mein Zahn mit den Nuancen seines Schmerzes, das Gewicht der Müdigkeit hinter meinen Augen, die Stille der Nacht vor meinem Fenster, das Gefühl der Welt, die sich da draußen im Dunkel bis weit hinter dem Horizont erstreckt mit all den unbekannten und unnennbaren Einzelheiten, die sich von Augenblick zu Augenblick unter dem Himmel bewegen und das Gewebe der Welt fortspinnen.
Das Netz der Physik, der Chemie oder irgend einer anderen Wissenschaft hat keine Maschen, um all das einzufangen, auf einmal einzufangen, mit einer einzigen Gleichung, mit einem einzigen Zugriff auf Alles.
Die einzelnen Königreiche der Wissenschaften
Die Argumentationen (B1) und (B2) sind mit dieser Überlegung verwandt, aber tatsächlich etwas schwächer. Sie weisen auf die Tatsache hin, dass es bereits unter den Wissenschaften nicht möglich ist, sie alle auf die „Naturgesetze“ der Physik zu reduzieren. Dies reflektiert einfach einen Grundsaz der Wissenschaftstheorie, dass zu den einzelnen Wissenschaften jeweils das Feld gehört, auf das sie sich beziehen, und dass diese nicht aufeinander reduziert werden können.
Als Beispiel möchte ich noch einmal die Medizin heranziehen. Vielleicht könnte irgend ein mythologisches Wesen mit einem Computer größer als die Galaxis tatsächlich einen Herzinfarkt beschreiben als ein riesiges Konglomerat von subatomaren Vorgängen. Nur wäre dies keine medizinische Diagnose mehr. Es wäre vor allem keine Beschreibung, die den Zweck der Medizin erfüllt: Zu diagnostizieren und zu heilen. Um diesen Zweck zu erfüllen, müsste man nämlich all den überflüssigen Ballast von Quarks und Protonen wieder über Bord werfen und all das auf die Ebene von Arterien und Thrombosen reduzieren.
Erfahrung und Naturgesetze
Also, was ist das Verhältnis des Jesaia-Monotheismus zu den Naturwissenschaften? Es ist erstens und vor allem uninteressant, ebenso uninteressant wie das Verhältnis von Quarks und Protonen zu einem Herzinfarkt. Und zweitens, wenn man versuchen würde, es zu definieren, würde man scheitern. Das ist ein klares Ergebnis. Dabei kann man es lassen und dabei sollte man es lassen.
Der nächste Post des Basisdiskurses trägt den Titel „Meditation: Der rote und der blaue Fisch„. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie den Newsletter.
Sehr gute und beeindruckend einfache Argumentation, tendenziell versuche ich immer den verbindenden Weg Naturwissenschaft und „Gott“ sind kein Widerspruch, aber genaugenommen gefällt mir dieser, Ihr Gedankenstrang dazu sehr gut.
Mir sagen die Ausführungen im Sinne der Wahrheitsfindung ebenfalls zu. Wenngleich sie darauf hinauslaufen, Gott von der Natur zu trennen, mithin den Schöpfer von seinem Werk. Bringt man die reale wirkmächtige Existenz des „einen Gottes“ ins Spiel, bleiben letzten Endes nur zwei unvereinbare Möglichkeiten:
a) Die Gesamtheit der belebten/unbelebten Natur ist Teil von dem „einen Gott“
oder
b) „Der eine Gott“ ist Teil der Gesamtheit der belebten/unbelebten Natur
Auf die stets menschlich bezogenen Wissenschaften ließe sich das umformulieren zu:
a) Führen die Facetten aller Wissenschaften zu dem „einen Gott“?
oder
b) Führen die Facetten aller Wissenschaften zur Natur?