Mai 202012
 

Basisdiskurs Religion XVI >>>mehr

Diese Frage wurde mir einmal in einer hitzigen Diskussion nach einem meiner Posts auf dem ausgezeichneten Blog von Michael Blume gestellt. Ich konnte sie in dem damaligen Rahmen nicht wirklich grundlegend beantworten (letztlich habe ich argumentiert, dass sie falsch gestellt ist).

Für mein wissenschaftstheoretisch geschultes und promoviertes Gehirn habe ich diese Antwort in meinen letzten Beiträgen bereits gegeben. Allerdings habe ich in den Diskussionen gemerkt, dass es sich lohnt, diese Betrachtungen noch einmal zusammenzufassen und zu schärfen. Als Aufhänger nehme ich die Frage von damals, also: Kann ein allmächtiger Gott die Naturgesetze ändern?

Gott und andere Theorien

Ich spreche hier natürlich nicht von irgend einem Gott und irgend einer Allmacht, sondern von der absoluten Version von Jesaias und Hiob, das ich in den Gottesaxiomen formalisiert und dessen Feld ich als das Experiversum beschrieben habe. Danach kommt alles, was geschieht von Gott und dieses „alles, was geschieht“ beschreibt den ganzen Umkreis des Experiversums, also der Gesamtheit der Erfahrungen des Menschen.

Um es vorweg zu nehmen: Diese Allmacht Gottes ist keine wissenschaftliche Theorie. Wie ich bereits in dem betreffenden Post festgestellt habe, sind die Sätze, die daraus abgeleitet werden können, zu banal dafür. Trotzdem ist sie in vielem ähnlich mit einer solchen Theorie und zwar ähnlich genug, um einfache wissenschaftstheoretische Erkenntnisse auf sie anwenden zu können. Einen wichtigen Aspekt dabei entnehme ich dem Wikipedia-Artikel zum Stichwort „Theorie“:

„Je nach wissenschaftstheoretischem Standpunkt wird der Begriff Theorie verschieden erklärt. Im Allgemeinen entwirft eine Theorie ein Bild (Modell) der Realität. In der Regel bezieht sie sich dabei auf einen spezifischen Ausschnitt der Realität.“

Dieser „spezifische Ausschnitt der Realität“ ist der Bereich oder das Feld der jeweiligen Theorie. Wenn ich ein bisschen in der Wikipedia herumkrame, finde ich viele Beispiele:

„Die Chemie … ist eine Naturwissenschaft, in der der Aufbau, die Eigenschaften und die Umwandlung von Substanzen (d.h. Elemente und Verbindungen) untersucht werden. Insbesondere werden in der Chemie Vorgänge untersucht, die in der Elektronenhülle von Atomen stattfinden.“

„Die Medizin ist eine praxisorientierte Erfahrungswissenschaft. Ziele sind die Prävention (Vorbeugung) von Erkrankungen oder von deren Komplikationen; die Kuration (Heilung) von heilbaren Erkrankungen, oder die Palliation (Linderung) der Beschwerden in unheilbaren Situationen.“

„Die Stochastik … ist ein Teilgebiet der Mathematik und fasst als Oberbegriff die Gebiete Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik zusammen.“ Und dazu weiter unter „Wahrscheinlichkeitstheorie“: „Heute ist die Wahrscheinlichkeitstheorie eine Grundlage der mathematischen Statistik. Die angewandte Statistik nutzt Ergebnisse der Wahrscheinlichkeitstheorie, um Umfrageergebnisse zu analysieren oder Wirtschaftsprognosen zu erstellen.Große Bereiche der Physik wie die Thermodynamik und die Quantenmechanik nutzen die Wahrscheinlichkeitstheorie zur theoretischen Beschreibung ihrer Resultate.Sie ist ferner die Grundlage für mathematische Disziplinen wie die Zuverlässigkeitstheorie, die Erneuerungstheorie und die Warteschlangentheorie und das Werkzeug zur Analyse in diesen Bereichen.“

Offensichtlich unterscheiden sich diese Wissenschaften stark voneinander und auch ihre Felder, ihre Anwendungsbereiche, sind von ganz unterschiedlicher Art.

Wissenschaften und Naturgesetze

Interessant für das Thema dieses Posts ist die Tatsache, dass in keinem der angeführten Artikel das Wort „Naturgesetz“ vorkommt. Der Eintrag zu diesem Stichwort in Wikipedia verweist mich auf „Physikalisches Gesetz“, also auf die Wissenschaft der Physik. Und dort finde ich die schöne Formulierung:

„Die Bezeichnung Natur“gesetz“ legt nahe, die Natur verhalte sich ähnlich wie Personen unter dem Zwang von Gesetzen; tatsächlich ist die Physik aber eine Erfahrungswissenschaft, und die von ihr aufgestellten „Gesetze“ sind nur Beschreibungen des vorgefundenen Verhaltens.“

Und wo findet die Physik dieses Verhalten vor? In ihrem eigenen Feld, und das ist

insbesondere … Materie und Energie und deren Wechselwirkungen in Raum und Zeit.“ (wieder Wikipedia).

„Kann Gott die Naturgesetze ändern?“, diese Frage spricht also das Verhältnis zwischen dem Begriff der Allmacht mit seinem Feld des Experiversums auf der einen Seite und der Physik mit ihrem Feld der Materie und Energie auf der anderen Seite an. Hier stellt sich sofort eine erste, einfache Rückfrage: Warum muss dieses Verhältnis unbedingt geklärt werden? Kein Mensch verlangt von der Medizin, dass sie ihr Verhältnis zur Teilchenphysik definiert, warum sollte dies also für die Allmacht Gottes unumgänglich sein?

Stochastik, Physik und der Rest

Trotzdem kann diese Frage, sozusagen als freiwillige Leistung, angepackt werden (ein Grund dafür ist der, dass das einfach Spaß macht). Für mich lässt sich dies gut am Beispiel der Stochastik durchdenken, die z.B. in der Versicherungsmathematik Anwendung findet. Mit ihrer Hilfe werden Voraussagen für die Zukunft gemacht, um aus ihnen die Höhe der Beiträge abzuleiten, die man den Versicherten abknöpft. Und wenn man diese Mathematiker fragt, woher sie denn das wissen, könnte die Antwort sein: „Das ergibt sich aus den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit.“

Auch hier könnte man jetzt eine unendliche pseudophilosophische Diskussion vom Zaun brechen: Sind diese Gesetze stärker als die der Physik? Bestimmen sie darüber, was passieren wird? Können sie im Zweifel die Gesetze der Physik durchbrechen, um ihre Voraussagen zu erfüllen?

Die Antwort lautet: Mit hoher Sicherheit stimmt jeder Einzelfall mit den Gesetzen der Physik überein. Wir untersuchen aber etwas ganz Anderes, eben die aus der Erfahrung gewonnenen Verteilungen ganz unterschiedlicher Fälle. Also: Wir durchbrechen die „Naturgesetze“ nicht, aber für unseren Untersuchungsgegenstand sind sie irrelevant. Vor allem, weil noch nicht einmal der Einzelfall, z.B. der Tod eines Versicherten, mit den Methoden der Physik umfassend beschrieben werden kann.

Also: Stochastik und „Naturgesetze“ haben nichts miteinander zu tun. Die Stochastik ist eine eigene, unabhängige Wissenschaft, die auf ihrer eigenen empirischen Basis steht und zu Recht keinen Gedanken an die „Naturgesetze“ verschwendet. (Ausgenommen sind natürlich die Bereiche, in der die Stochastik selbst als Hilfsmittel eingesetzt wird, um solche „Naturgesetze“ zu formulieren.)

Also, kann Gott oder kann er nicht?

Die Antwort lautet auch hier: Gott und die „Naturgesetze“ haben nichts miteinander zu tun. Auch hier steht das Konzept der Allmacht Gottes auf seinem eigenen empirischen Boden, auf der grundsätzlichen Unberechenbarkeit des menschlichen Lebens, diesem Komplex von stochastischen und chaotischen Systemen. Natürlich ist die Allmacht Gottes keine wissenschaftliche Theorie, aber sie ist ein unumgängliches begriffliches Hilfsmittel, um die Wahrheit unserer Existenz zu begreifen. Davon mehr im nächsten Post.

Der nächste Post des Basisdiskurses trägt den Titel „Experiversum reloaded„. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie den Newsletter.

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  23 Responses to “„Kann Gott die Naturgesetze ändern?“”

  1. Wenn
    a) Gott und die Naturgesetze haben nichts miteinander zu tun
    und
    b) Gottes Allmacht bewirkt alles Geschehende
    wäre dann nicht
    c) Gott ist den Naturgesetzen unterworfen?

    • Wohl eher: Wir können nicht zwischen Gott und Naturgesetzen unterscheiden, weil beides nur Erfahrungen innerhalb des Experiversms sind. Wer sagt eigentlich, daß es Naturgesetze wirklich gibt? Ich hab noch keins gesehen 😉

    • Äh, nicht ganz so.
      „Gott bewirkt alles Geschehene“ ist eine Aussage innerhalb des Experiversums. Und da die Naturgesetze damit nichts zu tun haben, macht es keinen Sinn zu behaupten, dass Gott den Naturgesetzen unterworfen ist. Naturgesetze werden nicht aus den uneinheitlichen und widersprüchlichen Erfahrungen des menschlichen Lebens destilliert, sondern aus isolierten und möglichst rein gehaltenen Versuchsanordnungen.

  2. Aha, danke, ich verstehe es jetzt hoffentlich.

    Bleibt nur die Teilfrage, in welcher Beziehung zu Gott würden die Naturgesetze außerhalb des Experiversums stehen?

  3. »Warum muss dieses Verhältnis unbedingt geklärt werden? Kein Mensch verlangt von der Medizin, dass sie ihr Verhältnis zur Teilchenphysik definiert, warum sollte dies also für die Allmacht Gottes unumgänglich sein?«

    Es gibt eine Medizin, die auf dem Boden der Physik steht, und eine andere, für die das nicht zutrifft. Das ist für Patienten ein wichtiger Unterschied.

    Die Frage “Kann Gott die Naturgesetze ändern?“ stellt sich, wenn es zum Beispiel um das Verständnis der Wunder geht. Oder einfach nur darum, wie man sich Gottes Wirken auf Erden vorzustellen hat.

    Das scheint mir auch eine wichtige Frage für die evolutionäre Religionswissenschaft zu sein (siehe das Blog von Michael Blume). Wenn Gott _nicht_ die Naturgesetze manipuliert, dann vielleicht deshalb nicht, weil er nur eine geistige Schöpfung der Menschen ist, kreiert im Zuge der evolutionären Entwicklung.

    Wenn man aber davon ausgeht, dass Gott als überempirischer Akteur in die Geschicke der Menschheit eingreift, dann könnte man vermuten, dass er auch die Evolution gezielt gelenkt hat, bis hin zum Homo religiosus.

    »Gott und die “Naturgesetze” haben nichts miteinander zu tun.«

    Obwohl das auch meine Überzeugung ist – was macht Sie so sicher, dass es sich tatsächlich so verhält?

    • „Eine Medizin, die auf dem Boden der Physik steht“, vielleicht täusche ich mich, aber ich finde diese Vorstellung sehr interessant. Da im ganzen Pschyrembel (Standardnachschlagewerk der Medizin) kein Wort von Bosonen, Quarks oder Stringtheorie steht, scheint mir hier „Physik“ als Kürzel für „rational“, „wissenschaftlich“ usw. zu stehen.
      Über die Wunder werde ich noch einmal einen eigenen Post schreiben. Ich bitte bis dahin demütig um Geduld. Zur Überbrückung vielleicht eine Anekdote (mit Preisausschreiben): Die früheste Definition von Wundern als Durchbrechung von Naturgesetzen, die mir bekannt ist, stammt von dem mittelalterlichen Denker Albertus Magnus (um 1200). Er propagierte diese Vorstellung deshalb, weil er damit z.B. die biblischen Wundergeschichten klar abgrenzte von der Erforschung der Naturgesetze: Das waren eben Durchbrechungen, die den Naturforscher aber nicht weiter interessieren müssen, weil er den regulären Gang der Dinge untersucht..
      Preisausschreiben: Wer kennt eine frühere Definition von Wunder vs. Naturgesetze? Und der Hauptgewinn: Hier einen Post schreiben.
      Wieder zurück zum Thema: „Gott“ ist „nur“ eine geistige Schöpfung der Menschheit in demselben Sinn, wie es die Newtonsche Mechanik oder die Relativitätstheorie ist.
      „Gott und die Naturgesetze haben nichts miteinander zu tun“ Warum ich mir da so sicher bin? Eben weil der Begriff „Gott“ in das Experiversum gehört und die „Naturgesetze“, d.h. die theoretischen Konstrukte der Physik, sich in einem gänzlich anderen Raum bewegen.
      Erst mal so viel.

  4. Lieber Herr Djebe,

    ich verfolge Ihren Blog schon von Anfang an sehr interessiert, war aber leider bis jetzt zu schreibfaul. Doch jetzt gibt es etwas zu gewinnen …

    Vielleicht scharf an einer Definition Wunder vs. Naturgesetze vorbei, aber meiner Meinung nach für das Thema nicht uninteressant: Wie ich mich glaube zu erinnern, unterschied Augustinus zwischen „echten“ Gotteswundern und den magischen Tricks der Dämonen, die den Gläubigen in die Irre führen sollten. Diese Illusionen und Zaubereien waren zwar äußerst raffiniert, aber dennoch den Naturgesetzen unterworfen (die Dämonen setzten praktisch High-Tech-Technologie ein). Einerseits trennt Augustinus somit die Macht Gottes von den Naturgesetzen. Andererseits entfernt er sich mit dem damit propagierten dualistischen Weltbild – Gott und seine Engel gegen Satan und seine Dämonen – stark von Ihrer Definition der Allmacht.

    Was sagen Sie dazu? Ich denke, Sie kennen Augustinus viel besser als ich und somit hoffe ich auf strenge Richtigstellung, falls ich hier falsch liegen sollte.

    • Lieber (Herr?) Bamay

      erst mal danke für Ihren interessanten Beitrag! Ich fühle mich äußerst geehrt, dass Sie mich als Kenner von Augustinus (und vermutlich der gesamten theologischen Literatur) ausgemacht haben. Leider muss ich schamrot gestehen, dass ich die Tradition nur fallweise kenne und dass mich insbesondere Augustinus nie besonders interessiert hat (sicher ein Fehler).

      Meinen hastigen Recherchen zufolge teilt er die Erscheinungen in der Welt ein in solche, die zwar dem Willen Gottes entspringen, aber sozusagen dem normalen Geschäftsablauf der Natur entsprechen (Auf- und Untergang der Sonne), dann in ungewöhnliche Naturerscheinungen (Sonnenfinsternis) und zuletzt in Wunder, die von Gott bewirkt werden, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen und ihnen auf diesem Wege eine göttliche Wahrheit mitzuteilen.

      Die „Naturwidrigkeit“ der Wunder ist demgemäß subjektiv. Für den Wahrnehmenden übersteigen sie das, was er von der Welt erwartet und machen ihn so darauf aufmerksam, dass ihm hier etwas Göttliches mitgeteilt wird. Dies schließt nicht aus, dass Gott fallweise tatsächlich aus pädagogischen Gründen die Naturgesetze dieser niederen materiellen Welt durchbricht.

      Hier ein Link zu einer ausführlichen Behandlung:
      http://www.archive.org/stream/augustinuslehre00nitzgoog/augustinuslehre00nitzgoog_djvu.txt

      Das Problem von irreführenden Dämonen ist natürlich das Problem der Allmacht schlechthin: Wie kann es in einer ausschließlich von Gott entspringenden Welt einen Widersacher geben? Hiob und Jesaias lassen einen solchen Widersacher nicht zu: Alles, auch das Dunkle, entspringt dem Willen Gottes. Für Jesus ist Satan tatsächlich eine widergöttliche Macht in der Welt. Allerdings hat dieses „Widergöttliche“ bei ihm einen besonderen Charakter; bei genauerer Analyse widerspricht es keineswegs der unumschränkten Allmacht.

      Ja, und mit dem Preis: Über was wollen Sie denn einen Gastpost schreiben ;-)?

  5. Herr Djebe, Sie verwirren mich.

    Wenn Gott samt seiner Allmacht ins Experiversum gehört und von Grund auf nichts mit den Naturgesetzen und den theoretischen Konstrukten der Physik zu tun hat, löst sich damit letzten Endes nicht sogar Gott auf, sobald der Mensch bzw. das Experiversum von der Bildfläche verschwindet? Damit wäre doch Gott eindeutig den Naturgesetzen unterworfen?!?

    • Eine interessante Frage. Und eine spontane Antwort: Wenn ich über die Jahrmillionen nach hinten und vorne sehe, dann sehe ich vor und nach der Existenz des Menschen Gott am Werk. Ähnlich, wie ich vor und nach dem Menschen die Relativitätstheorie am Werk sehe, obwohl kein Mensch mehr da ist, der sie formulieren kann.

      Ich denke auch, dass das Experiversum nicht mit dem Menschen verschwindet. Ich habe den ganzen Komplex des Geschehens von Augenblick zu Augenblick mit all seinen chaotischen und stochastischen Bestandteilen zwar über die Erlebniswelt des Menschen definiert (weil es das ist, was uns interessiert), aber diese Eigenart der realen Welt bleibt ja bestehen, auch wenn es uns nicht mehr gibt.

      Ja doch, die Antwort lasse ich erst einmal so stehen.

    • Jetzt bin ich etwas verwirrt. Ich hielt das Experiversum bisher für einen vom Menschen abhängigen Raum, in dem zwar die Tatsächlickeiten abgebildet sind und so miteinander Sinn ergeben, wei Mensch sich das denkt, aber eben vom Menschen abhängig. Sprich: Gibt es keinen Menschen mehr, gibt es kein Experiversum mehr, gibt es keinen Gott mehr, gibt es keine Naturgesetze mehr, weil keiner mehr den Dingen diese Bedeutung zumisst, auch wenn sie noch „da“ sind.

    • Ja, da sollte ich noch Klärendes nachschieben. Heute Abend bin ich zu müde, um das wirklich präzise zu formulieren. Und dann wird die Verwirrung noch größer- Also, ich bitte um Geduld bis morgen.

      Schönen Abend noch allerseits!

  6. Ok, hier die Antwort. Wir sind dabei, uns in philosophischen Problemen zu verheddern, die hier eigentlich nicht hingehören. Ich beantworte hier zwei Fragen und auch nur genau diese (also keine ähnlich klingenden, die aber eine andere Bedeutung haben):

    – Können wir von einem Experiversum sprechen, vor oder nachdem es Menschen gegeben hat?
    – Können wir von Gott reden, bevor oder nachdem es Menschen gegeben hat?

    Zur Antwort greife ich zu einem gewagten Vergleich, er ist nur dazu gedacht, genau diese Fragen zu erörtern und keine anderen (z.B. die, ob es Gott „gibt“)

    Ich stelle mir die Welt einer Raupenart vor. Jedes Frühjahr kommt sie aus ihren Eiern gekrochen und jeden Herbst verpuppt sie sich und wird zum Schmetterling. Diese kann ein bisschen sehen und das Grün von Blättern erkennen, sie kann Blätter riechen, sie kann den Untergrund, auf dem sie kriecht, fühlen und den besten Weg erkunden, an die Blätter zu kommen usw. Ich nenne diesen kleinen Ausschnitt der Welt, den sie erkennen kann, das Raupiversum.

    Diese Raupen hätten einen Raupengott, der nach ihrer Vorstellung das Raupiversum regiert (etwas anderes kennen sie nicht), der das Grün hervorbringt, von dem sie sich ernähren usw. Ferner gibt es unter ihnen Philosophen, die darüber spekulieren, wo denn die Blätter herkommen, die sie im Frühjahr vorfinden und die mehr oder weniger mythische Geschichten darüber erzählen, wie sie der Raupengott für sein Volk ins Leben ruft.

    Es wäre nun falsche Philosophie, wenn man einwenden würde, dass diese Geschichten schon aus dem Grund nicht stimmen können, weil ohne Raupen (die dann noch in den Eiern stecken) das Raupiversum nicht existiert und der Raupengott nur für dieses zuständig ist. Wenn die Philosophen dann fragen: „Ja, gibt es denn diese wohlschmeckenden grünen Dinger erst in der Sekunde, in der die erste Raupe aus dem Ei kriecht?“ müsste man zugeben, dass sie sehr wohl bereits zuvor da sind.

    Übertragen auf das Experiversum: Ich habe es ja in meinem Post so eingeführt, dass ich uns Menschen als mobile Meßstationen geschildert habe, die diesen Ausschnitt der Wirklichkeit erfassen und erfahren. Und genau so, wie weit entfernte Galaxien nicht verschwinden, wenn es keine Radioteleskope mehr gibt, die sie orten, verschwindet auch dieser Ausschnitt der Wirklichkeit nicht, wenn es keine Menschen mehr gibt.

    Die ersten Menschen haben ihre Füße auf diesen Boden gesetzt, der bereits da war, haben den Himmel und die Wolken gesehen, die schon seit Jahrmillionen über der Erde waren. Und wenn ich sage, dass Gott bereits da war, dann sage ich, auf eine andere Art, eben dies. Was dieses „auf eine andere Art“ heißt, das ist das Thema der nächsten Posts.

    Ich werde in dem „Experiversum“-Post einen Link hierher einführen. Deshalb hier noch einmal der Link zurück.

  7. Lieber Herr Djebe, mit meinem Satz: “Eine Medizin, die auf dem Boden der Physik steht”, meine ich genau das, was im Pschyrembel zwischen Aberration und Zerfallsgesetz an Physik zu finden ist. Was eben alles so zur physikalischen Chemie und Biophysik gehört und für die Medizin relevant ist.

    Sie schreiben: “Gott” ist “nur” eine geistige Schöpfung der Menschheit in demselben Sinn, wie es die Newtonsche Mechanik oder die Relativitätstheorie ist. Daraus schließe ich, dass Gott für Sie nur auf dem Papier existiert.

    Andererseits sagen Sie aber auch, dass der Begriff „Gott“ zum „Experiversum“ gehört, während die „Naturgesetze“, also das, worauf sich die Newtonsche Mechanik und die Relativitätstheorie beziehen, sich in einem ganz anderen Raum bewegen.

    Wie passt das zusammen? Und was für ein Raum soll das denn sein, der außerhalb der „Gesamtheit der Erfahrungen eines Menschen“ (= Experiversum) liegt? Gehören physikalische Gesetzmäßigkeiten denn nicht zu den von Menschen erfahrbaren „Dingen“?

    • Lieber Herr Balanus,
      leider habe ich einen alten Pschyrembel, in dem nichts von Zerfallsgesetz steht. „Aberrationen“ sind dort einfach Abnormitäten. Ich habe bei meinem Beispiel „Medizin“ in meinem Post geahnt, dass Einwände wie die Ihren kommen, wegen der Anschaulichkeit des Beispiels habe ich es trotzdem gewagt und, wie man sieht, verloren.

      Noch einmal, worum geht es? Ich wollte einfach auf die grundlegende wissenschaftstheoretische Erkenntnis hinweisen, dass Theorien (auch wissenschaftliche Theorien) immer nur im Bezug auf ein bestimmtes Anwendungsgebiet sinnvoll sind und im Bezug auf dieses Anwendungsgebiet beurteilt werden können. Es ist also kein Defizit der Medizin, wenn sie z.B. einen Herzinfarkt in ihrer eigenen Terminologie beschreibt, in der keine Elektronen usw. vorkommen und diese Beschreibung ist auch keine vorläufige, die irgendwann einmal durch eine „wirkliche“ zu ersetzen ist, die den gesamten Tatbestand in der Terminologie der Teilchenphysik darstellt.

      Dann: „Gott“ ist eine geistige Schöpfung … Bitte beachten Sie die Anführungszeichen. Diese Zeichenfolge zusammen mit den Gottesaxiomen usw. steht in der Tat auf dem Papier (in diesem Fall auf dem Bildschirm), ebenso wie die Relativitätstheorie. Beide bezeichnen aber einen Aspekt der Wirklichkeit.

      Ihre letzte Frage scheint mir wieder das grundsätzliche Mißverständnis von Naturgesetzen als objektiven, außerhalb und über jeder einzelnen Theorie liegenden Tatbeständen wiederzuspiegeln. Die Newtonsche Mechanik und die Relativitätstheorie z.B. haben jeweils unterschiedliche Anwendungsgebiete (wobei die erstere mit gewissen Einschränkungen ein Grenzfall der letzteren ist).

      Und: Die unmittelbare Erfahrung von physikalischen Gesetzmäßigkeiten ist möglich. Dies ist aber nur ein Teil dessen, was uns zustößt. Das Meiste ist bestimmt durch einen Komplex von chaotischen und stochastischen Systemen, ohne den Charakter von „Gesetzmäßigkeiten“.

      Lieber Herr Balanus: Falls diese Diskussion weitergeht, würde ich sie bitten, Ihre Einwände zu einer Gegenthese zu meinen Posts zu schärfen. Natürlich stelle ich Einiges schief und unklar dar, das liegt u.a. daran, dass ich diesen Blog in meiner knappen und vielfach erschöpften Freizeit betreibe. Ich könnte aber besser antworten, wenn ich wüsste, woraus Sie hinauswollen.

  8. Danke für die ausführliche Antwort, lieber Herr Djebe, ich hoffe, ich stehle Ihnen nicht allzu viel Zeit. Dass Theorien immer nur im Bezug auf ein bestimmtes Anwendungsgebiet sinnvoll sind, bestreite ich nicht. Mir kam dabei aber der Hinweis zu kurz, dass die verschiedenen Theorien sich nicht gegenseitig widersprechen dürfen, wenn sie fundiert sein sollen, sie müssen sich gegenseitig ergänzen und in der Gesamtbetrachtung ein insgesamt stimmiges Bild ergeben.

    Nehmen wir zum Beispiel einen Menschen, der eine Gotteserfahrung hat. Diese wurde möglicherweise ausgelöst durch eine neuronale Spontanaktivität irgendwo in seinem Gehirn, die eine ganze Kaskade von weiteren neuronalen Aktivitäten zur Folge hatte. Spontanaktivitäten wiederum werden durch eine Aufsummierung von Quantenphänomenen ausgelöst (Physik), unter anderem an den Ionenkanälen in der Nervenzellmembran (Chemie), die ein stochastisches Öffnungsverhalten zeigen. Am Ereignis der Gotteserfahrung sind also alle Ebenen der menschlichen Wirklichkeit beteiligt, von der subatomaren bis zur obersten, der geistig-religiösen Ebene. Und für jede Ebene haben wir die passenden Theorien (mehr oder weniger).

    »Ihre letzte Frage scheint mir wieder das grundsätzliche Mißverständnis von Naturgesetzen als objektiven, außerhalb und über jeder einzelnen Theorie liegenden Tatbeständen wiederzuspiegeln.«

    Ich weiß nicht, ich denke halt, die Natur ist, wie sie ist, die Kräfte, die in ihr herrschen, sind wie sie sind. Darauf beziehen sich unsere Formulierungen der „Naturgesetze“ und Theorien, mal mehr, mal weniger genau und treffend. Worauf bezieht sich demgegenüber das Gottesaxiom?

    Worauf ich also eigentlich hinaus will, ist Ihr Gottesverständnis bei der Frage, ob Gott die „Naturgesetze“ ändern kann. Ob Gott für Sie ein bloßes Abstraktum ist, oder als wirkmächtige Entität außerhalb der menschlichen Vorstellung existiert, als überempirischer Akteur, wie Michael Blume sagen würde. Für viele Menschen ist Gott ja letzteres.

    Ich vermute, dass Sie diese Frage nicht in einem Satz beantworten können oder wollen (siehe Ihr Blog). Macht aber nix. Ich schaue gelegentlich vorbei, vielleicht erfahre ich dann ja noch das eine oder andere.

    ‚Balanus‘ ist übrigens kein Nachname 😉

  9. Wir sehen die Raupe mit ihrem begrenzten Raupiversum. Und folgern daraus, dass auch unser Experiversum = Homoversum begrenzt ist. Gut. Dann haben wir einen Herrn, der gerne mit herausgestreckter Zunge dargestellt wird (nicht der Deifi!) und der macht eine Theorie, die bisherige Messungen und Wahrnehmungen und Begrifflichkeiten des Menschen (Teil des Experiversums!) zusammenhängt. Er schreibt sie auf, und andere Leute können sie nachvollziehen und bestätigen. Haben wir etwas erfaßt, was außerhalb des Experiversums liegt, oder haben wir ein bestimmtes Feld des Experiversums erweitert?

    Ich hab ein Problem mit dem Menschen als wandelnde Meßstation. Er mißt nicht nur Wirklichkeit, er schafft sie – meine ich. So, wie die Raupe ihres schafft. (Und des gibt bestimmte Teilbereiche, wo sich Homoversum und Raupiversum überschneiden.)
    Insofern: Je mehr wir daran arbeiten, irgend etwas zu erfassen, was außer uns liegt, inkorporieren wir was.

    Insofern krieg ich diese Kurve nicht, Experiversum und das ewige Universum mit seinen Abläufen auseinander zu halten, obwohl es so einleuchtend scheint, dass sie zwei verschiedene Sachen sind.

  10. Bin sehr angetan von einer Theorie des Jenseits, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll.

    http://neuespiritualitaet.wordpress.com/2012/05/18/eine-physikalische-theorie-vom-jenseits/

    Sind Sie an solchen Themen interessiert, oder soll Gott etwas Außergewöhnliches bleiben, welches immer über dem Rest des Universums stehen soll?

  11. @balanus
    Dass wissenschaftliche Theorien, zumindest bisher, Gott sei Dank ;-), von der neuronalen Aktivität menschlicher Gehirne erstellt werden mit den entsprechenden chemischen und elektrischen Vorgängen, ist zwar richtig, aber nicht immer relevant. Die so entstandene Theorie muss sich aber diese physiologischen Grundlagen nicht berücksichtigen oder mit ihnen ein „stimmiges Bild“ ergeben. Eine mathematische Theorie in der Primzahlforschung z.B. ist davon völlig unabhängig.
    Dann zu Ihrer Frage, ob Gott für mich “ ein bloßes Abstraktum ist, oder als wirkmächtige Entität außerhalb der menschlichen Vorstellung existiert“. Für mich ist er beides, wie etwa die Gravitation, die gleichzeitig wirkmächtig und ein Abstraktum ist, d.h. kein konkreter Gegenstand unserer Anschauung, sondern ein theoretischer Term innerhalb der Newtonschen Mechanik.
    @Violet_Teki
    Im Moment lasse ich das Jenseits einmal ganz beiseite. Zumindest im altjüdischen Monotheismus spielt es keine Rolle; dieser Gott manifestiert sich in der Welt und den konkreten Geschehnissen.
    @Schwester Pia
    Im Moment arbeite ich an einem neuen Post, der noch einmal das Experiversum aufgreift.

  12. @Eric Djebe

    Danke für die Antwort(en).

    Sicherlich gibt es auch Theorien, die voneinander unabhängig sind, weil sie verschiedene Felder betreffen. Dann können sie auch nicht miteinander im Widerspruch stehen. Mehr verlange ich ja nicht 😉

    Gott ist für Sie also wirkmächtig wie etwa die Gravitation, eine reale Kraft, die wir zwar nicht sehen können, dafür aber um so deutlicher spüren. Dann vertreten Sie möglicherweise auch eine theistische Evolutionstheorie (Homo religiosus als Evolutionsziel). Diese steht aber im Widerspruch zur darwinschen, also der biologischen Evolutionstheorie. Eine von beiden wäre also verbesserungswürdig.

    • @balanus

      Ich weiß nicht genau, was ein Homo religiosus ist. Wenn ich mir allerdings die Felsmalereien der steinzeitlichen Jäger und Sammler ansehe, dann kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ganz am Anfang stand und dass wir uns immer weiter davon entfernen (statt uns auf ihn zu zu entwickeln).

  13. @Eric Djebe

    Der Homo religiosus ist schlicht der Mensch als solcher, wegen seiner prinzipiellen Befähigung zur Religiosität im weitesten Sinne. Also praktisch jeder. So zumindest habe ich die Aussagen der evolutionären Religionswissenschaft verstanden.

    Im engeren Sinne (also H. religiosus verstanden als der religiöse, an überempirische Akteure glaubende Mensch) ist halt die Frage, ob diese Variante derzeit zahlenmäßig zu- oder abnimmt.

  14. Ja kann er. Es werden keine raubtiere mehr geben.

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