Mai 132012
 

Basisdiskurs Religion XIV >>>mehr

Eigentlich wollte ich diesen Post mit einem schmissigen Zitat von Richard Dawkins eröffnen. Leider musste ich feststellen, dass ich erst im übernächsten Post soweit bin. Nun ja, bei einem Thema wie diesem kann man nicht immer alle drei Parameter bedienen, die ein Blog eigentlich aufweisen sollte: Gehalt, Verständlichkeit und Unterhaltsamkeit. Im Moment müssen alle drei ein bisschen bluten, vor allem aber die Unterhaltsamkeit; alles dauert ein bisschen länger als geplant.

In meinem letzten Post habe ich den Begriff des Experiversums eingeführt, mit dem ich das Gesamt der Erfahrungen eines Menschen bezeichne. Dies ist das Anwendungsgebiet für die Gottesaxiome. Ich habe das Experiversum beschrieben als einen im Tiefsten chaotischen und unübersichtlichen Ort, und zwar zunächst wegen der Lückenhaftigkeit unserer Sinneswahrnehmungen und der erratischen Art, wie unser Bewusstsein diese Eindrücke verarbeitet.

In diesem Post gehe ich einen Schritt weiter und zeige auf, dass die Unübersichtlichkeit unserer Lebenswelt sich zwingend aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaft ergibt.

Der Laplacesche Dämon

Über viele Jahrhunderte war das naturwissenschaftliche Weltbild im Wesentlichen deterministisch. Seinen besten Ausdruck fand diese Weltanschauung 1814 in der Formulierung des Physikers Pierre-Simon Laplace:

Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Universums als Folge eines früheren Zustandes ansehen und als Ursache des Zustandes, der danach kommt. Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen.“

Diese hypothetische, alles berechnende Intelligenz nennt man den Laplaceschen Dämon. Der Determinismus, der hier seinen klarsten Ausdruck findet, lehrt also, dass sich jedes Geschehen in der Welt mit einer eindeutigen, starken Kausalkette aus vorangegegangen Geschehen ableiten lässt. Diese Vorstellung einer zuverlässigen Kausalkette für alles spukt noch immer in den Köpfen vieler Leute herum, wenn sie von Natur“gesetzen“ sprechen als einer Instanz, die die Geschehnisse des Universums durchgehend bestimmt und ordnet.

Den großen Schlag gegen dieses Weltbild führte die Quantenphysik mit ihrer Entdeckung, dass bestimmte Vorgänge im subatomaren Bereich nicht absolut berechenbar sind, sondern nur den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit unterliegen. Dies war auf jeden Fall eine wertvolle Erkenntnis, um das deterministische Weltbild zu durchbrechen. Für das Experiversum hat es allerdings nur geringe Relevanz, da sich diese Zufallsfaktoren spätestens in Systemen von der Größe eines Wasserstoffatoms ausgleichen (*).

Hier sind vielmehr zwei andere Wissenschaften von Bedeutung: Die Wahrscheinlichkeitstheorie, auch Stochastik genannt und die Chaostheorie.

Die Würfel

Als perfektes Beispiel für die Stochastik gilt das Würfeln: Die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Zahlen eins bis sechs oben liegt, ist jeweils genau gleich, aber für das Ergebnis des nächsten Wurfes gibt es absolut keine Voraussage. Diese wissenschaftliche Tatsache ist völlig unabhängig davon, dass die Bewegung des Würfels genauen physikalischen Gesetzen unterliegt, die gewürfelte Zahl ist abhängig von Richtung, Wucht und Drehmoment des Würfels sowie der Eigenschaften des Untergrunds, auf dem er rollt. Für die Stochastik ist diese physikalische Grundlage jedoch unerheblich, ihre Erkenntnisse bleiben davon unberührt.

Und natürlich ist diese Situation – das Würfeln – Teil des Experiversums vieler Menschen. Dies und eine Vielzahl anderer stochastischer Systeme. Einige davon kann ich z.B. an den Schwellen alter Kirchen sehen, die in der Form einer Gauß’schen Verteilungskurve niedergetreten sind. Oder in dem weißen Rauschen, wenn ich im Radio kein Programm empfangen kann. Oder in der Augenfarbe meiner Nachkommen. Tatsächlich ist die Stochastik überall in unserem Leben, in unserem Experiversum, mehr oder weniger präsent, also die Tatsache, dass ich die Zukunft nicht berechnen kann, sondern nur Wahrscheinlichkeiten angeben kann.

Das Wetter

Eine weiterer Typ der Nicht-Berechenbarkeit wird von der Chaostheorie untersucht. (Diese Wissenschaft meint mit „Chaos“ etwas anderes als der übliche Sprachgebrauch. Um Missverständnisse zu vermeiden, werde ich in diesem Zusammenhang also von „Chaos (w)“ und „chaotisch (w)“ sprechen) Die genaue Definition ist komplex und, für unser übliches Denken, ungewöhnlich. Eine gut verständliche Einleitung findet sich hier. Tiefer gehende Diskussionen, vor allem über den Unterschied zwischen chaotischen (w) und stochastischen Systemen, würde den Rahmen dieses Posts ganz erheblich sprengen. Ich werde mich deshalb auf wenige Beispiele beschränken.

Wenn ich z.B. eine Badewanne vollaufen lasse und dann ein Badeöl hineingebe, was ich mir ganz selten gönne (ich bevorzuge dann das simple Latschenkieferöl), dann kann ich sehen, wie es sich in Schlieren durch das Wasser verteilt, bis es gleichmäß alles gefärbt hat. Die genaue Art, in der diese Verteilung stattfindet, kann nicht effektiv vorausberechnet werden und sie unterliegt nicht einmal einer Wahrscheinlichkeitsverteilung.

Ein anderes und bekannteres Beispiel ist das Wetter (hierher gehört auch der berühmte Schmetterling, der z.B. auch in dem obigen Link zitiert wird). Ich habe einmal in einer Sammlung populärwissenschaftlicher Artikel aus den 1950er Jahren gelesen, dass die Meterologie, die Wissenschaft vom Wetter, auf ihren Newton wartet, auf ein Genie, das die Axiome findet, aus denen dann Wetterfronten, Hoch- und Tiefdruckgebiete usw. berechnet werden können wie die Planetenbahnen aus der Gravitationslehre. Damals war noch nicht klar, dass dies nie der Fall sein wird. Erst die Chaostheorie hat für diese Erkenntnis die Grundlage geschaffen.

Der Bus

Unser Experiversum ist ein sehr komplexes Gebilde, zusammengesetzt aus einer Vielzahl unterschiedlicher Ereignisse und Faktoren, die sich gegenseitig bedingen und überschneiden. Darin sind stochastische und chaotische (w) Systeme allgegenwärtig. Trotzdem stehen in unserem Bewußtsein die stark kausalen Zusammenhänge weit im Vordergrund. Genauer gesagt, bauen wir unsere Erfahrungen massive Filter ein, um uns in einer solchen kausalen Weltsicht zu begründen und zu bestärken.

Zunächst einmal ist dies die berühmte „Macht der Gewohnheit“. Ist es nicht immer das Gleiche? Steige ich nicht jeden Morgen um 8:03 Uhr in den Bus, bin um 8:30 am XY-Platz und dann in 5 Minuten im Büro? In Wirklichkeit ist dieser Vorgang natürlich keinesfalls immer gleich. Der Bus wird sich um x Minuten verspäten, ich muss stehen oder ich bekomme einen Sitzplatz, jeweils auf der linken oder rechten Seite mit einer ganz anderen Aussicht und ganz anderen Sitznachbarn und ganz anderen Konversationen links oder rechts von mir. Die 5 Minuten Fußmarsch mache ich dann immer gleich, indem ich immer die gleiche Route wähle und das Wetter und die Leute um mich herum möglichst ignoriere.

Normal ist alles

Wahrgenommen wird die Variabilität, die Unberechenbarkeit dieses Stück Lebens am Morgen erst, wenn die Filter sie nicht mehr wegbringen, z.B. bei einer so großen Verspätung des Busses, dass ich zu spät zur Arbeit komme und mich erklären muss. Das heißt, ich teile mein Leben ein in den Normalbetrieb, in dem alles läuft wie erwartet, und Zufälle, die diesen Normalbetrieb unterbrechen. Wie bereits gesagt, was normal und was Zufall ist, hängt nicht von den Ereignissen selbst ab, sondern davon, ob ich ihre Variabilität wegfiltern kann oder nicht. So wird eine Verspätung des Busses um zehn Minuten kaum wahrgenommen werden, wenn ich meine Arbeit eine Stunde vor der Kernzeit beginne und ohnehin den Kopf voll habe von einem anstehenden Problem.

Normalität als der regelgerechte Zustand der Welt und Zufall als ein regelwidriges Ausbrechen daraus ist eine so starke Vorstellung im Geist der Menschen, dass sie eine große Menge dagegen stehender Tatsachen verdrängen kann. Es wurden etwa in Reihenuntersuchungen Männer mit einem Geburtsjahr um 1900 nach ihrem Lebenslauf gefragt. Üblicherweise schilderten sie ihre Ausbildung und ihren Beruf als die Normalität ihres Lebens, die dann jeweils durch widrige Zufälle wie Kriege, Wirtschaftskrisen usw. unterbrochen wurde. Tatsächlich verbrachten sie in ihrem Leben mehr Zeit in Uniform, Gefangenenlager, Arbeitslosigkeit etc. anstatt in ihrem „normalen“ Beruf. Aber irgendwie war das nicht das richtige, das normale Leben und wurde im Rückblick weggedimmt.

Eine konstruierte Achse

Derartige Beispiele gibt es viele, um uns herum. Am einfachsten können wir sie in uns selbst finden. Wenn wir auf unsere eigenen Wahrnehmungen achten, können wir leicht erkennen, dass wir in die Wahrnehmung unseres Lebens jeweils große, zentrale Achsen von Normalität einbauen. Dabei filtern wir das überall wirksame Meer stochastischer und chaotischer (w) Systeme weg und schieben den Rest, der sich so nicht verdrängen lässt, als Zufall an den Rand.

Im folgenden Post sehe ich mir diese Normalität und die Gründe dafür genauer an. Im Vorgriff kann ich sagen, dass diese Wahrnehmung zwar bequem und allgegenwärtig ist, aber eine entscheidende Dimension unseres Lebens vor uns verbirgt. Und es ist die strenge, reine, von der Allmacht bestimmte Idee des Monotheismus, der sie uns wieder erschließt.

(*) Die Beschreibung dieser Berechnungen habe ich irgendwo in den vielen Pages der Templeton-Foundation gelesen und finde ihn jetzt natürlich nicht mehr. Wenn irgend jemand einen Link auf das Ergebnis kennt, wäre ich ihm dankbar.

Der nächste Post des Basisdiskurses trägt den Titel „Frisbee spielen„. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie den Newsletter.

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  6 Responses to “Der Würfel, das Wetter und der Bus”

  1. Es ist spät und ich bin von einer gewissen Müdigkeit ergriffen, möchte aber trotzdem folgenden Gedanken anbringen, bevor ich ihn vergesse, ach wenn er nicht ganz klar rüberkommt:
    Freilich ist es für die Stochastik alles gleich und die Wahrscheinlichkeit einer 6 beim Würfeln ist so hoch wie die einer 1. Allerdings ist es doch auch so (ist es?), daß wenn man wüßte, wie genau man den Würfel halten und werfen muß, um auf dieser Unterlage diese oder jene Augenzahl zu bekommen, und wenn man es motorisch aszuführen im Stande wäre, daß man dies tun könnte. Also der Laplacesche Dämon müßte doch, wenn er über die entsprechenden motorischen Fähigkeiten verfügt, jedes Würfelspiel gewinnen können, oder sehe ich das falsch?
    Daß wir uns auf die Stochastik stützen hat also hier nach meinem Verständnis eher praktische Gründe, weil wir es nicht besser hinbekommen, oder mache ich hier einen Denkfehler?

    • Die entscheidende Aussage hier ist diese:
      Für die Stochastik ist diese physikalische Grundlage jedoch unerheblich, ihre Erkenntnisse bleiben davon unberührt.
      Trotzdem überlege ich jetzt, ob ich den Post nicht doch noch einmal neu formuliere. Ich habe vielleicht zu viel vorausgesetzt, was mir selbst aufgrund meines Studiums als selbstverständlich erscheint.

  2. Wie gesagt, war schon spät. Also versteh ich das richtig, daß es zwar physikalische Beschreibungen gibt, daß wir uns aber praktisch an die Stochastik halten und die genaen physikalischen Grundlagen in unserem praktischen Leben keine Rolle spielen? Oder noch platter ausgedrückt: Physik ist schön und gt, aber im richtigen Leben interessiert sich dafür keiner?

    • Tut mir leid, dass ich so spät antworte. Ich bin, wie gesagt in einem neuen Job & habe gestern 12 Stunden programmiert. Für mein ehrfurchtgebietendes Alter ist das ziemlich viel.
      Also: Genaueres in dem nächsten Post, in dem ich noch einmal eine Vertiefung des Themas bringen werde, aber vorläufig: Physik ist gut und schön, Chemie ist gut und schön, Medizin ist gut und schön, die Stochastik ist gut und schön. All das sind wissenschaftliche Disziplinen, die sich zwar in Punkten berühren, aber die, jede für sich, ihre eigenen Felder und ihre eigenen Methoden haben und die auch jede für sich ihre Berechtigung haben.

  3. Ich hab jetzt den neuen Post nochmal gelesen, dann den hier und nochmal ins Expericversm gesehen. Verstehe ich es richtig, daß die zentrale Aussage dieses Posts ist, daß wir unser Experiversm weitgeehnd deterministisch geordnet haben, das aber aufgrund neerer Erkenntnisse nicht mehr tun können und daher alles recht unübersichtlich eworden ist?

    Ich glaube mein Problem beim ersten Lesen dieses Beitrags hier war (wohl auch aufgrund der späten Stunde, außerdem kam ich rad aus der Kneipe), daß ich Experiversum und das, was wirklich da draußen ist (Universum, Kosmos, Realität, wie auch immer) durcheinandergeworfen habe. Ja, blöd, ich weiß. In der Folge war mir dann unklar, ob Sie die überexperiverselle Realität als deterministisch oder nichtdeterministisch verstanden haben. nd ging damit vollkommen am Punkt vorbei. Natürlich ist mir klar, daß wir auf gar nichts anderes Zugriff haben, als auf das Experiversum. (ich muß mir das nur immer in Erinnerung rufen)

    • Ich denke, Sie sind auf der richtigen Spur. Aber jetzt muss ich Sie auf den übernächsten Post vertrösten, ich habe noch einen zwischengeschoben

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