Basisdiskurs Religion III
Dies ist der erste und vielleicht schwierigste Schritt, um „Religion“ zu verstehen, ist die, den Anfang zu verstehen. Das allgemeine aufklärerische Vorurteil über die Ursprünge von Religion fasst sie als Lückenbüßer auf, als Ersatz für die mangelnde Information über die Welt, die uns Heutigen die Naturwissenschaft liefert. Ein gerne gebrachtes Beispiel: Die Steinzeitmenschen sahen einen vom Blitz gefällten Baum und fantasierten sich einen zuständigen Gewittergott zusammen, weil sie keine Ahnung von der elektrischen Entstehung der Blitze hatten. Wir wissen das (irgendwas mit Luftschichten und Reibung oder so, steht irgendwo in Wikipedia) und können deshalb die Religion ad acta legen.
Mit den Tatsachen hat diese Vorstellung allerdings nichts zu tun; ich kann mich spontan auf keine einzige Sage von Jäger- und Sammlergesellschaften besinnen, in der Blitze oder ähnliches irgend eine Rolle spielen. Diese Geschichten funktionieren ganz anders.
Orini
Es war an einem sonnenglitzernden Tag an einem Strand Aotearoas, dem Land im Meer, das die Weißen Neuseeland nennen. Die Maori mit dem Namen Orini blickte auf die Wellen hinaus und ihre Stimme wurde so hart wie die Haut über ihrem muskulösen Körper, als sie sagte: „Ich hasse es, von der Sozialhilfe zu leben, ich hasse es. Aber ich kann hier nicht weg. Ich bin der Hüter unseres Landes, außer mir ist niemand mehr da.“
Diese Hüterin des Stammeslandes hatte sich auf einem Stück der Küste eingerichtet. Mein erster Eindruck war durchaus gemischt, das Ganze sah nach einer Mischung aus Schrotthalde und Abenteuerspielplatz aus: Ein altes Sofa, ein Kühlschrank ohne Strom, ein baufälliger Campingwagen und weitere 12 Meter angerostetes Sperrgut. Und hier diese Frau, eine Kettenraucherin mit einem Tatoo auf dem Kinn. Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass der Sand absolut frei von Kippen oder jeglichem sonstigen Abfall war. Sie war Kaumatua, ein geistiger Führer ihres Hapu, ihres Clans. Und sie war Tangata Whenua, ein Mensch des Landes.
Das bedeutet, dass sie, wie die anderen Mitglieder ihres Clans, dem Land gehören: Die Nachgeburt eines Neugeborenen wird auf dem Stammesland eingegraben, ein Zeichen für die spirituelle oder magische Verbindung zu diesem Stück der Welt. All das und noch viel mehr hatte ich mir in meiner Vorbereitung auf diese Reise einverleibt. Ich war hierher gekommen, um den Haka zu lernen, das, was man normalerweise als den Kriegstanz der Maori bezeichnet. Und als Tangotänzer wusste ich, dass ein Tanz mehr als ein Tanz ist, dass man die Kultur kennen muss, die ihn hervorgebracht hat, um ihn wirklich zu verstehen.
Beim Lesen all der Einzelheiten hatte ich ein bisschen verstanden, um was es ging, in meinen ersten Tagen in Aotearoa, in meiner Lehrzeit mit meinem Haka-Lehrer ein bisschen mehr und in meinen Gesprächen mit den Kaumatuas anderer Hapus schon ziemlich viel.
Hier, auf diesem Strand, konnte ich für einige Stunden die Welt berühren, in der Orini und ihre Schwestern und Brüder lebten, tauchte ein wenig ein in dieses Netz, in dem sie lebte und in dem alles zusammenpasste und alles miteinander zu tun hatte: Die Sonne und die Wellen, jeder Stein am Strand und jeder Grashalm im Hinterland, die Felsen mit ihren Geschichten, die sie vor den Weißen geheimhielt und die Tätowierung in ihrem Gesicht, deren Bedeutung ihr eine Großtante vererbt hatte. Und in dieser Tätowierung war eine Linie verwackelt, weil der einzige Künstler, der die Macht dazu hatte, sie zu stechen, in einem einzigen Punkt seiner Familiengeschichte diese Macht nicht rein empfangen hatte.
Orini zeigte über das Wasser auf ein Felsenkap vor der Küste: „Da wollen sie ein Hotel hinbauen. Wir sagen nein. Da werden nachts Lichter scheinen und Lichter auf diesem Felsen bedeuten Gefahr. Das glauben wir, das wissen wir.
Sie erklären uns, dass da vielleicht vor hundert Jahren oder so ein Wachtposten war, der ein Alarmfeuer angezündet hat, wenn ein Angriff vom Meer kam und dass wir deshalb diesen Glauben haben. Das kann sein oder auch nicht sein, aber es hat auf jeden Fall keine Bedeutung für uns. Für uns sind Lichter dort Gefahr. Das ist einfach so. Und deshalb werden wir niemals unsere Zustimmung dazu geben, dass dort irgend etwas hingebaut wird.“
Die Welt, der Sinn?
In diesem Blick auf die Welt sind, für uns, unterschiedliche Elemente ineinander verwoben. Die einen sind für uns realitätsbezogen (die Felsen des Riffs), andere fantastisch (die Feuer bei Gefahr). Die letzteren fassen wir zusammen unter dem Begriff Religion oder Magie oder Aberglaube oder was auch immer. Das ist natürlich unser Blick von außen. Für diese Menschen selbst ist das alles eine Einheit. Die entscheidende Frage ist nun: Wie sieht diese Einheit aus? Warum ist das alles zu einem untrennbaren Ganzen verwachsen?<
Die häufigste Antwort ist in etwa die, dass der „religiöse“ Anteil, wenn wir das so nennen wollen, dem ‚“realistischen“ Anteil einen Sinn gibt. Dieser Sinn erklärt mehr oder weniger, wie alles im Inneren zusammenhängt. Ohne ihn wäre die Welt nur ein Haufen unzusammenhängender Einzelheiten, ein sinnloser und und deshalb bedrohlicher Platz zum Leben.
Vermutlich können die meisten Menschen mit dieser Erklärung etwas anfangen, vielleicht mehr, vielleicht weniger. Ich selbst kann mich auch durchaus damit zufrieden geben, allerdings glaube ich nicht, dass damit wirklich das Zentrum dessen getroffen wird, was hier vorgeht. Davon mehr in meinem nächsten Post.
Der dysfunktionale Überschuss
Zuvor aber noch ein ein Seitenblick auf eine Eigenart dieser Sinngebung, wenn wir sie einmal so nennen wollen: Dafür, dass sie eine so wichtige Funktion im Leben dieser Menschen erfüllt, geht sie äußerst unsystematisch und verschwenderisch vor.
Die Erzählungen in den vielen Traditionen von der Erschaffung der Welt, von der Herkunft der Menschen sind mit unnötig vielen merkwürdigen Einzelheiten aufgeladen, andere Geschichten, die sogenannten Trickster-Erzählungen, scheinen überhaupt keinen „Sinn zu machen“ (mehr davon, wenn es um das Alte Testament geht). Bei aller scharfsinnigen Analyse sollte man nicht vergessen, dass in diesen Geschichten, Mythen, oder wie man sie auch immer nennen will, eine Freude am Überschuss am Werk ist, am Ornament, an der Verschwendung von erzählerischer Energie.
Da mir die erzählerische Energie gerade ausgegangen ist, werde ich die Fortsetzung auf den nächsten Post verschieben.
Der nächste Post des Basisdiskurses trägt den Titel „Das Land, die Welt (Zwei)„. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie den Newsletter.
Jäger- und Sammlergesellschaften und Blitze
Das Hauptproblem dürfte hier die Überlieferung solcher Geschichten sein.
Mit sind keine größeren Quellen über entsprechende Geschichten bekannt, ua. weil diese Gesellschaften über keine Schrift verfügten.
Die ältesten Schriften auf die wir heute noch zugreifen können, sind voll mit Weter, Wolken und Blitzen!
Ein majestätischer Wind, der im großen Himmel aufbrüllt, dessen Blitze Überfluss zeigen, wenn ER seinen Schrei erhebt und das Land und die großen Berge ängstlich sind. Großer Held, den Hirtenstab in seiner Hand und
Great hero, holding the shepherd’s crook in his hand and die Klammern der Autorität an seiner Seite, wenn ER strahlend über das ganze Land und die ganze See donnert.
usw.
Jo. Hirtenstab. Also Pastoralgesellschaft. Und es gibt genügend Sammlungen von mündlichen Überlieferungen von „Steinzeit“-gesellschaften.
Was ist die Pointe meines Posts? Er richtet sich gegen die Vorstellung, dass Religionen, Mythen usw. Lückenbüßer sind für mangelnde wissenschaftliche Kenntnisse. Dass die Leute damals sahen, wie ein Baum vom Blitz getroffen wurde, nicht verstanden, was da passiert und als Erklärung einen Donnergott erfunden haben. Diese Mythen und Erzählungen haben aber ganz andere Zielrichtungen, die uns zum Teil immer noch Rätsel aufgeben (z.B. die vielen und überall anzutreffenden „Trickster“-Geschichten)