Basisdiskurs Religion I
Das Christentum ist, wie andere Weltreligionen, eine mentale Technik zur Bewältigung und Optimierung des Lebens. Dahinter steht, wie bei anderen Weltreligionen, die Vorstellung, dass die Menschen von ihrer Natur her zunächst einmal unfähig sind, ein geglücktes Leben zu führen und eben diese Technik benötigen, um die Hindernisse zu einem geglückten Leben zu überwinden. Und, wie bei anderen Weltreligionen, besteht ein wesentlicher Bestandteil dieser Technik in einer bestimmten Betrachtungsweise der Welt.
Die drei Phasen
Die christliche Lehre weist aber gegenüber allen anderen Weltreligionen die Besonderheit auf, dass es in drei scharf unterschiedlichen und teilweise zeitlich weit auseinander liegenden Phasen entstand.
Die erste Phase bestand in der Entwicklung eines ausgereiften Monotheismus. Zum Höhepunkt gelangte sie um ca. 600 v.Chr., aus dieser Zeit stammen die maßgeblichen Texte der Bibel zu diesem Thema. Die zweite Phase dauerte nur wenige Jahre, während denen Jesus von Nazareth seine Predigt verkündete. Die dritte Phase schloss unmittelbar daran an, sie wurde bestimmt von der Interpretation der Hinrichtung dieses Jesus durch die ersten christlichen Gemeinden. Hauptsächlicher Theoretiker dieses Abschnitts war der Apostel Paulus. Grob vereinfacht, behandeln diese drei Phasen jeweils das Thema Ontologie, Ethik und Lebenskunst, also die Fragen „Wie ist die Welt beschaffen?“, „Wie sollen wir handeln?“ und „Wie gehe ich mit meinen Defiziten um?“
Diese dreifache Struktur mit markanten Brüchen zwischen den drei Teilen macht es von vorneherein schwer, eine zusammenhängende Lehre dahinter zu finden und zu rekonstruieren. Erschwerend kommt hinzu, dass die einzelnen Bestandteile in ihrer Überlieferung unsystematisch sind und sich untereinander formal unterscheiden.
Prinzipien der Rekonstruktion
Wenn ich mich nun trotz dieser Problematik an die Rekonstruktion der Lehre mache, muss ich dafür bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Die erste, gleichzeitig selbstverständlichste und schwerste, ist die Überzeugung, dass es diese einheitliche Lehre hinter der bunten Überlieferung tatsächlich gibt. Die zweite, ebenso selbstverständliche, aber auf diesem Gebiet wenig beliebte ist die, dass ich mein Ziel auf die gleiche Art verfolge wie bei anderen systematischen Überlegungen. Die leitenden Merkmale, nach denen ich suche, ähneln denen einer wissenschaftlichen Theorie. Das sind der innere Zusammenhang der einzelnen Bestandteile, die Übereinstimmung mit den bekannten Tatsachen und jener letztlich ästhetische Instinkt, mit dem ein Forscher in einem Wust von einzelnen Beobachtungen einer einheitlichen Theorie nachspürt.
Jeder Forscher oder Denker hat dann letztlich die Pflicht, das Ergebnis seiner Überlegungen so klar wie möglich darzustellen und sich dahinter zu stellen, mit dem Motto: „So ist es und nicht anders (zumindest, bis jemand Gegengründe bringt, die systematisch mindestens auf dem Niveau meiner Theorie sind)“. Und auch ich werde mich davor nicht drücken.
Das Tabu
In diesem Fall stehen aber zwei unterschiedliche und gegensätzliche Überzeugungen gegen dieses „So ist es“.
Die erste lautet, dass eigenes Denken in diesen Dingen nur statthaft ist, solange es mit den Vorschriften der Autorität übereinstimmt, welcher Autorität auch immer. Mit diesem Standpunkt werde ich mich nicht auseinandersetzen.
Die zweite bezieht sich auf die Tatsache, dass es so viele verschiedene Christentümer gibt (Christentümer? das Wort gibt es wohl nicht, gut, also: Versionen des Christentums). Und man ist sich unter fortschrittlich Glaubenden stillschweigend einig, dass man sich gegenseitig keine unangenehmen Fragen nach der Stichhaltigkeit dieser oder jener Überzeugung stellt. Oft wird diese systematische Weichheit auch mit massiven Argumenten verteidigt, etwa der von der prinzipiellen Unbegreiflichkeit Gottes. Und, welche Kriterien sind denn schon vorstellbar, nach denen ich eine einzige von diesen Versionen als die eine, wahre ausgeben könnte?
Kriterien der Wahrheit
Es gibt drei solche Merkmale. Das erste ist die Übereinstimmung mit den Quellen, in diesen Fall mit den Texten der Bibel. Und zwar mit dem vollen Wissen über die oft problematische Geschichte ihrer Entstehung. Dazu wird es in späteren Posts zu einzelnen Themen aus der Bibel immer wieder Überlegungen geben. Das Ziel ist hier, sicher zu stellen, dass z.B. meine Rekonstruktion des Gottesbegriffes tatsächlich dem der altjüdischen Überlieferung entspricht.
Das zweite Merkmal ist die Einordnung in unser Wissen über die Welt, das vor allem von der Naturwissenschaft bestimmt wird. Dies ist tatsächlich das am leichtesten zu erfüllende Kriterium, wie sich noch zeigen wird. Problematisch ist vor allem, dass es auf so viele Vorurteile trifft. Von der einen Seite wird als axiomatisch vorausgesetzt, dass jeder konkrete Gottesbegriff religiotischer Unsinn sein muss. Und von der anderen Seite ist man so gewohnt, diesen Begriff ins Ungefähre zu verschieben, dass jede präzise Einordnung in ein wissenschaftliches Weltbild als beinahe blasphemisch empfunden wird.
Das dritte Kriterum habe ich bereits angesprochen. Es ist die innere Einheit des Ganzen. Dies ist, für mich, entscheidend. Der allgemeine theologische Konsens geht z.B. ohne größere Bauchschmerzen davon aus, dass es keinen inneren Zusammenhang zwischen den oben beschriebenen Phasen zwei und drei gibt, also der Predigt Jesu in den Evangelien und der Lehre des Paulus. Das könnte so in keiner anderen Wissenschaft stehen bleiben (siehe dazu meinen Post). Dies, das Suchen nach der Einheit hinter der Vielheit, dem Zusammenhang im Inneren der Dinge, ist die mächtige Antriebskraft der menschlichen Erkenntnis, im Alltag genau so wie in der Wissenschaft.
So weit diese Eröffnung. Ich bin selbst gespannt auf die letztliche Form, die meine Posts annehmen werden. Und ich hoffe auf eine lebhafte und fruchtbare Diskussion.
Der nächste Post des Basisdiskurses trägt den Titel „Credo und ein bisschen Wissenschaftstheorie„. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie den Newsletter.
Es freut mich, daß die Reihe nun losgeht. Wegen der späten Stnde nur zwei Anmerkungen:
„Christentümer“ hörte ich schon des öfteren als Begriff. Zerst meine ich von Prof. Benad, Bethel, der genau darauf hinauswollte un klar zu machen, daß Christentum zu anderen Zeiten etwas ganz anderes bedeutete (er ist Kirchengeschichtler).
Dann zum Zusammenhang zwischen 2 und 3. Ich laß vor einer Weile im ThWNT die Artikel zu metanoia und ähnlichen Wörtern und mir fiel ins Auge, daß ein Autor die These aufstellte, daß ein Zusammenhang zwischen Jesus und Paulus gewesen wäre, sich an die Sünder zu wenden, wobei Paulus diesen Begriff wohl noch stärker als Jesus mit den Heiden zusammenbrachte. Genauer weiß ich es leider nicht mehr.
[…] gibt. Womöglich entsteht so etwas ähnliches drüben bei Eric Djebe, der hat nämlich einen Basisdiskurs Religion gestartet, auf dessen Ergebnisse ich gespannt bin und dessen zweiten Teil ich mir jetzt durchlesen werde. […]