Wenn ich in einer Geschichte des Mittelalters blättere, merke ich wieder einmal, wie sehr allgemeine Klischees über eine bestimmte Epoche auch mich gefangen nehmen, der es eigentlich besser wissen müsste. Die allgemeine Vorstellung dieser Zeit kreist vor allem um Begriffe wie Hunger, Seuchen, Unwissenheit, Unterdrückung und insbesondere Stagnation des Geisteslebens. An diesem Stillstand war natürlich vor allem die Kirche zu schuld, die jeden auf den Scheiterhaufen brachte, der daran zweifelte, dass die Erde flach, der Papst unfehlbar und häufiges Baden sündhaft ist.
Verus pauper Christi
„Mittelalter“ meint im hiesigen Sprachgebrauch West- und Mitteleuropa von ca. 800 bis 1500. Im allgemeinen Bewusstsein wird diese provinzielle Ecke der Historie auf die ganze Weltgeschichte projiziert, so wird z.B. die politische Bedeutung und geistige Strahlkraft von Ostrom, dem byzantinischen Reich, bei dieser Nabelschau ausgeblendet (die merkwürdigen Folgen dieser eingeschränkten Sicht wären einen eigenen Post wert). Aber auch in diesen paar Jahrhunderten in diesem Winkel Europas wuchs und gedieh eine bunte und dynamische Vielfalt geistiger Schöpfungen, von denen ich hier nur einen Strang herausgreife, den der bewussten Armut, des Lebens als verus pauper Christi, als echter Armer in der Nachfolge Christi.
Lange vor Franz von Assisi gab es einflussreiche geistige Strömungen, deren hauptsächlicher Antrieb eben diese Lebensweise der Armut war. Propagandisten waren z.B. Robert von Molesmes, der Gründer der Zisterzienser und Bernhard von Clairveaux, das berühmteste Ordensmitglied, ferner Norbert von Xanten, von dem der Orden der Prämonstratenser stammt.
Armut und Geld
„Lebensweise der Armut“ ist ein abstrakter Begriff. Und es ist unmöglich, sich in das weißglühende Feuer einzudenken, das diese Menschen angetrieben hat. Sie kamen aus begüterten Familen, warfen alles hinter sich, gingen in die Wildnis und brachen Steine für neue Klöster zwischen Dornen aus dem nackten Felsen. Ihr Ideal war Armut, persönliche Besitzlosigkeit und harte Arbeit. Und ironischerweise führte dies in kurzer Zeit zu einem unerhörten Reichtum des Ordens. Als der englische König Richard Löwenherz von dem österreichischen Herzog Leopold gefangen gesetzt wurde, waren die Zisterzienser in England eine der Hauptfinanziers für das Lösegeld.
Dass bei einer zu starken Betonung der Armut der äußerst geldbewusste Machtapparat der Kirche bisweilen brutal zurückschlug, ist eine andere Seite dieses Phänomens. Die Nachfolger des hochgelobten Franz von Assisi wurden zu einer konventionellen, wirtschaftlich orientieren Organisationsform gezwungen. Die Behauptung, dass Jesus Christus arm gewesen war, wurde lebensgefährlich, die letzten Anhänger der ursprünglichen Lehre von Franziskus, die so genannten Spiritualen, kamen auf den Scheiterhaufen. (Eine der vielen Opfer in der Geschichte, die spurlos aus dem Gedächtnis verschwinden, weil sie keiner Seite in den Kram passen: Die Kirchenkritiker interessieren sich nur für Giordano Bruno und Galilei und die Kirchentreuen würden die ganze Inquisition sowieso gerne unter den Teppich kehren)
Die Lücke
Aber zurück zu dem plötzlichen Reichtum der armen Mönche: Er zeigt ein Dilemma auf, das mir für unsere Zeit potenziell wichtig erscheint. Wenn wir es schaffen wollen, aus unserer zerstörerischen Lebensweise auszubrechen, müssen zumindest einige von uns eine solche absolute Haltung entwickeln, wie diese Menschen vor knapp tausend Jahren. Aber eine solche Einstellung kann nur aus einer tiefen persönlichen Motivation kommen, einem weißglühenden existenziellen Bedürfnis. Aber inwieweit die Taten, die daraus entspringen, wirklich zur Lösung der objektiven Probleme beitragen? Ein Stück weit wohl, aber dann?
Der nächste Post trägt den Arbeitstitel „Warum Gespräche mit Gläubigen für Atheisten so anstrengend sind“. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie den Newsletter.