Dez 072013
 

Also, alles wieder mal sehr lange gedauert. Einerseits ist im Moment privat viel los und nicht immer Erfreuliches, andererseits bin ich immer ziemlich gelähmt vor dem Bildschirm gesessen, weil ich tief innen das Gefühl hatte, dass da noch irgend was Grundsätzliches fehlt. Und vor ein paar Stunden habe ich es gefunden (reimt sich sogar): Den Mechanismus von Antikythera! Na, wenn das kein Anreisser ist …

Aber zuerst noch ein bisschen Theorie:  (Übrigens: Hier geht’s los mit der Reihe „Existiert Gott?“)

Warum Axiome?

So überorganisiert diese merkwürdige Theorie P der starken Allmacht auch erscheinen mag, musste sie doch einmal formuliert werden. Denn nur so kann ich sowohl die Über­einstimmungen mit als auch die Unterschiede zu einer wissenschaftlichen Theorie scharf in den Blick bekommen.

Was heißt es überhaupt, eine Theorie axiomatisch zu formulieren, wie ich es mit P getan habe? Es bedeutet, dass die Theorie alle und nur diejenigen Sätze als wahr kenn­zeichnet, die entweder selbst zu den Axiomen gehören oder mithilfe einer logischen Ableitung aus ihnen gewonnen werden können. Dies hat übrigens für P nicht nur theoretische, sondern durchaus auch spirituelle Folgen, wie ich noch zeigen werde.

Nun ist nicht jede wissenschaftliche Theorie axiomatisch formuliert, so umfasst zum Beispiel die Genetik in der Biologie verschiedene wissenschaftliche Theorien, die aber allesamt nicht in Axiome gegossen wurden. Aber die Wissenschaftstheorie, die (nicht sehr überraschend) wissenschaftliche Theorien untersucht, hat sich dabei vor allem auf die Physik konzentriert, die ihre Theorien seit Newton in axiomatischer Form entwickelt (so zum Beispiel die Gesetze der Thermodynamik) und ihre Überlegungen kann ich am Besten auf die Frage nach der Existenz Gottes übertragen, wenn ich mich dabei ebenfalls dieser Form bediene.

Fels des Monotheismus

Diese Überschrift ist natürlich ein Echo auf die berühmte Aussage von Büchner, nach dem das Leid in der Welt der „Fels des Atheismus“ ist, ein Fels, an dem die Ablehnung eines all­mächtigen Gottes wurzeln und der Glaube an ihn scheitern muss. Es ist dies bei ihm kein akademischer, philosophischer Glaubenssatz, sondern, viel tiefer und viel echter, die Weigerung, für sich persönlich ein Prinzip (Gott) in den Mittelpunkt des eigenen Lebens zu stellen und als Preis für diese Entscheidung in irgend einer Form dem Leiden in der Welt zustimmen zu müssen.

In unüberbietbarer Form wird dies von Dostojewski auf den Punkt gebracht, dessen Iwan Karamasow jedes mögliche Ziel der Welt, jede zukünftige Harmonie in einem großen Plan Gottes als unzureichend ablehnt für die persönliche Akzeptanz des Leidens: „… und darum verzichte ich völlig auf die höhere Harmonie. Sie ist nicht einmal eine einzige Träne auch nur eines gequälten Kindes wert … Nicht Gott lehne ich ab, sondern ich gebe ihm nur ehrerbietigst die Eintrittskarte zurück„, die Eintrittskarte zu jeglicher Veranstaltung, die auch nur irgendwie diesen Tränen zustimmt als notwendig, unvermeidbar oder vielleicht sogar als heilsam.

Denn dies ist, und daran habe ich keinen Zweifel, in irgend einer Form tatsächlich der Preis, den ich und den jeder Mensch entrichten muss, der an den einen allmächtigen Gott glaubt. Es ist entscheidend wichtig, diesen Preis in voller Höhe zu zahlen, „die Furcht des Herrn ist der Anfang aller Weisheit“. Da wir aber dafür ungewohnte Wege gehen müssen, liegt die Versuchung allzu nahe, ihn zu mindern, den Glauben weniger kostspielig zu machen.

Eine dieser Strategien ist es, die Allmacht Gottes abzuschwächen. Beliebt ist da die Masche mit der Willensfreiheit: Schließlich hat Gott den Menschen damit beschenkt und kann deshalb nicht eingreifen, wenn die einen Menschen den anderen aus freiem Willen Böses antun. Da wir nun im Anthropozän, in einer zunehmend vom Menschen bestimmten Welt leben, kann man gemütlich zusehen, wie die Zuständigkeit Gottes von Jahr zu Jahr schrumpft und er höchstens noch für Anomalien wie einen Tsunami haftbar ist. Allerdings legt diese Strategie die Axt an die Wurzel des Monotheismus und die obige harte Formulierung der starken Allmacht ist ein undurchdringlicher Schild gegen solche und ähnliche Anschläge.

Der harte Kern

Natürlich wird ein Glaube nicht bei der banalen Formulierung von P stehen bleiben. Aber wenn P durchanalysiert worden ist, erhalte ich einen harten Kern, dessen Widerspruchsfreiheit, dessen Verhältnis zur physischen Realität und dessen Bedeutung für den Begriff Gottes feststeht. Wenn ich nun diesen Kern mit neuen Inhalten erweitere, muss ich nur prüfen, ob der harte Kern dadurch tangiert wird; wenn nicht, dann gilt für die erweiterte Version dasselbe wie für den Kern.

Das hört sich vielleicht kompliziert an, ist aber meist im konkreten Einzelfall sofort klar. Denn wenn der Glaube über den Begriff der Allmacht Gottes hinausgeht, handelt es sich fast immer um spirituelle Errungenschaften, also nicht um konkrete Behauptungen über die Welt und meine Erfahrungen, sondern um den richtigen Blickwinkel darauf.

Einschub: Gott als Vater

Dies gilt auch für die Frage nach der Güte Gottes, der Frage von Büchner und Iwan Karamasow, dem Theodizeeproblem, wie die Philosophen dazu sagen. Diese formulieren es als theoretische Frage: Wie ist angesichts des Leidens in der Welt die Allmacht Gottes und die Güte Gottes miteinander vereinbar?

Wenn ich aber den Beginn des Glaubensbekenntnisses betrachte, der auch sein ältester Teil ist, heißt es dort: „Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater“ (patera pantokratora). Als Ausdruck eines gelebten Glaubens haben diese beiden Begriffe einen unterschiedlichen Charakter: Die Vorstellung des Pantokrators, des Allherrschers, weist sicher eine emotionale Komponente auf, enthält aber vor allem eine starke Sachaussage, eben diejenige, die ich in P formuliert habe. Pater jedoch, Vater, ist eine persönliche Anrede, in der sicher auch die Assoziation von Güte enthalten ist, aber eingebunden in eine komplexe emotionale Beziehung. Allmacht und Güte Gottes sind nicht von der gleichen Art und können nicht gleichzeitig auf die gleiche Art behandelt werden (sie kommen nicht beide auf einmal durch diese Drehtür).

Die Frage lautet hier also nicht: „Ist ein gleichzeitig guter und allmächtiger Gott in sich widersprüchlich?“, sondern: „Ist es möglich und ratsam, einen allmächtigen Gott als Vater anzunehmen?“

Noch ein Einschub: Die möglichen Welten

Dies ist übrigens keine Verharmlosung des Problems, sondern seine Verschärfung. Denn dadurch wird eine der beliebtesten Lösungen des Theodizeeproblems erledigt, nämlich der Trick mit den möglichen Welten. Danach würde der gute und allmächtige Gott natürlich gerne eine Welt ohne Leiden zusammenbasteln. Leider erweist sich das aber als unmöglich, weil zum Beispiel die Abschaffung des Ovarialkrebses an anderer Stelle noch viel Fürchterlicheres bewirkt, vielleicht ständige Vulkanausbrüche oder Ähnliches. Deshalb konnte der gute Gott nur die beste aller möglichen Welten erschaffen, nämlich unsere.

Damit kann man, wenn man will, rein philosophisch die Güte Gottes retten, aber kaum seine Akzeptanz als Vater. Denn vielleicht mag jemand, wie Iwan Karamasow, seine Existenz zugeben und vielleicht sogar höflich seinem großen Kunststück der besten aller Welten applaudieren. Es sollte sich aber jeder fragen, ob ein solcher Meisterkoch, der um des besten aller möglichen Omeletts willen kaltblütig Millionen von Eiern auf dem Küchenboden zerteppert, für uns arme Eier wirklich die beste Vaterfigur ist.

Aber eine wissenschaftlichen Theorie ist doch etwas ganz Anderes?

Wenn ich auf Wikipedia oder sonstwo nach dem Stichwort „wissenschaftliche Theorie“ suche, bekomme ich als erstes und wichtigstes Kriterium einer solchen Theorie die Tatsache, dass mit ihrer Hilfe verifizierbare Voraussagen gemacht werden können, dass sie also voraussagt, was passieren wird, wenn man zwei Substanzen zusammen rührt oder zu dem und dem Zeitpunkt den und den Stern beobachtet.

Mit diesem Kriterium ist P sofort aus dem Rennen. Die einzigen Voraussagen, die ich damit machen kann, sind von der Art: Es regnet morgen genau dann, wenn Gott bewirkt, dass es morgen regnet. Und eine solche Aussage kann man nicht wirklich verifizieren, denn man kann natürlich morgen prüfen, ob es regnet, aber keinesfalls, ob Gott damit wirklich etwas zu tun hat. Ende der Diskussion? Nun, P ist, wie auch schon zu Beginn betont, bestimmt keine wissenschaftliche Theorie, aber vielleicht bei genauerem Hinsehen doch nicht so himmelweit davon entfernt, wie es jetzt scheint.

Als Beispiel würde ich den Mechanismus von Antikythera heranziehen. Um 1900 wurden aus einem Wrack im Mittelmeer von Tauchern 82 Fragmente eines bronzenen Mechanismus geborgen, der zunächst als Astrolabium identifiziert wurde, bevor man bei genauerer Untersuchung entdeckte, dass es sich um eine Art frühen (analogen) astronomischen Computer handelte, dessen Mechanismus in aufwendiger Forschungs­arbeit rekonstruiert werden konnte. Die Wissenschaftler publizierten dann ihre Ergebnisse, in der allgemeinen Form: Bei diesem Mechanismus handelt es sich um eine Rechenmaschine mit den Einzelteilen X, ihrem Zusammenspiel Y und den Ergebnissen Z.

War das eine wissenschaftliche Theorie? Wenn man die ungeheure wissenschaftliche Arbeit betrachtet, die hineingesteckt wurde und den überzeugenden und überraschenden Charakter des Ergebnisses, so kann daran kein Zweifel bestehen. Wenn man aber das Hauptkriterium der Erzeugung verifizierbarer Prognosen anwendet, dann ist es auf keinen Fall eine. Alles ist fix und fertig untersucht, mehr Einzelteile werden nicht mehr auftauchen (das Wrack wurde mit allem nur denkbarem Aufwand durchsiebt) und das Ergebnis steht, wie es ist.

Das bedeutet nicht, dass ich das übliche Kriterium verifizierbarer Prognosen für falsch oder unbrauchbar halte, Theorien, die dieses Kriterium erfüllen, bleiben sicher der maßgebliche Kern der Wissenschaften. Ich möchte aber argumentieren, dass es nicht, für sich genommen, das entscheidende Merkmal „Wissenschaftlichkeit“ einer Theorie ist, obwohl es die wichtigste Methode ist, um dieses Merkmal sicher diagnostizieren zu können.

Davon beim nächsten Mal mehr, der Post muss endlich raus.

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