Nov 092011
 

Sie haben vermutlich mitbekommen, dass wir in ziemlichen Schwierigkeiten stecken. Die Geschichte mit der globalen Erwärmung haben wir in Europa und Nordamerika als bisher minder Betroffene noch gut weggesteckt. Andere Themen nehmen wir wohlweislich gar nicht zur Kenntnis. (Haben Sie in letzter Zeit einen Bodenkundler gefragt, wie es mit den landwirtschaft­lichen Flächen der Zukunft steht? Tun Sie’s nicht.)

Unsere Fähigkeit, diese Drohungen zu ignorieren, haben wir vor allem daraus bezogen, dass unsere Wirtschaft und damit unser zentrales Orientierungs­system noch intakt war mit der persönlichen Aussicht auf Erfolg, das heißt finanziellen Erfolg, Sicherheit, das heißt finanzielle Sicherheit und Glück, das heißt ein durch die ersten beiden Faktoren finanziell unterfüttertes Glück. Und deshalb glaubten wir oder wollten wir es glauben, dass dieses System, durch das wir leben, den Mehrwert aufbringen würde, der nötig wäre, um die Herausforderungen zu meistern, vor denen die Menschheit steht. Den finanziellen Mehrwert, versteht sich, denn etwas anderes hatte das System nicht zu bieten.

Der große Crash hat diese Illusion zerstört. Ein System wie der Kapitalismus, das zu zyklischen Zusammen­brüchen neigt und dann sämtliche Ressourcen der Gesellschaft an sich ziehen muss, um sich selbst zu reparieren, kann die ungeheure Energie nicht aufbringen, mit der wir uns eine bewohnbare Zukunft schaffen könnten.

Und jetzt?

Nichts.

Dass wir die grundlegenden Prinzipien nicht auswechseln, nach denen unsere Gesellschaft funktioniert oder vielmehr nicht funktioniert: Geschenkt.

Dass wir noch nicht einmal das Personal austauschen, diese selbsternannte Elite aus Wirtschaft und Politik, die uns an die Wand gefahren hat: Meinet­wegen.

Dass wir uns mit so offensichtlich unzureichenden Maßnahmen vergnügen wie dem Hin- und Herschieben von Gewichten zwischen Staat und Wirtschaft: Nun ja, ein wenig hilft es ja vielleicht.

Dass wir unfähig sind, uns irgend eine Alternative zum gegenwärtigen System auch nur vorzustellen: Bedrohlich, aber hier die richtige Antwort zu finden, dauert ja vielleicht eine Weile.

Aber dass wir unwillig sind, auch nur den Gedanken zu fassen, es könnte andere Wege jenseits von Kapitalismus und Staat geben, dass wir mit einer Mischung aus sorgfältig gezüchteter Dummheit, arrogantem Achtelwissen und einer ständig erneuerten Nebel­wand von irrelevantem Geschwätz in unserem kollektiven Bewusstsein jeden Ansatz zu etwas Anderem syste­matisch ausrotten: Das ist ein Verbrechen.

Was sollten wir tun?

Denn da es nicht so aussieht, als könnten wir aus unseren bisherigen Ansätzen die Lösungen entwickeln, die wie so dringend benötigen, wäre es unsere erste, drängendste Aufgabe, alle anderen Möglichkeiten eines Neubeginns mit aller Sorgfalt zu prüfen – und zwar in der Reihenfolge ihres Potenzials, einen solchen Neubeginn herbeizuführen.

Würden wir das tun, dann wäre der erste Kandidat für eine solche Prüfung die stärkste kulturelle Kraft, die in die Wurzeln unserer Gesellschaft ein­ge­flochten ist, eine Kraft, die über Jahrtausende tiefere Umwälzungen überlebt und mehr Einfluss ausgeübt hat als jede andere Tradition der Menschheits­geschichte. Insbesondere hat sie bereits einmal den Zusammenbruch einer Zivilisation überlebt – den des Römischen Reiches – und in einer Welt des Chaos mit neuen, kreativen Organisationsformen den Wiederaufbau angestoßen..

Ja, ich rede vom Christentum.

Ich rede von einer Sache, die keiner von uns wirklich durchschaut, von einer Sache, die wir vielleicht, bei genauem Hin­sehen, als nicht wünschenswert oder als endgültig gestorben einstufen würden. Das Problem ist aber, dass wir uns ein solches genaues Hinsehen systematisch verbaut haben.

Die gesamte Masse des Denkens und Redens auf diesem Gebiet ist durch eine gemeinsame geistige Haltung verseucht, die in einem Prozess der gegen­seitigen Ansteckung und Nivellierung jegliches Qualitätsbewusstsein ausgerottet hat. Diese Haltung wirkt sich anders aus bei Kirchenführern und Atheisten, bei Theologen und Bestsellerautoren, bei Predigern und Konsu­menten und ist doch letztlich dieselbe, nämlich die, ihren Gegenstand mit einer selbst­gefälligen Ober­fläch­lichkeit zu behandeln, mit einer breit­beinig daher­kommenden, achselzuckenden Indolenz, die wir in anderen Bereichen schon aus purer Selbstachtung vermeiden würden. Wir würden keine Steuererklärung, keine Küchenbestellung, ja, noch nicht einmal eine Wahl­plattform aus der Hand geben, die mit demselben Mangel an Sorgfalt, mit derselben systematischen Qualitätslosigkeit erstellt ist wie ein beliebiger Beitrag zur Lehre des Christentum in der heutigen Geistes­land­schaft.

Hierbei handelt es sich natürlich nicht um eine zufällige Häufung indivi­duellen Versagens, sondern um ein sich selbst verstärkendes System, aus dem dann die eben beschriebene geistige Haltung entsteht. Dieses System umfasst ganz unterschiedliche gesellschaftliche Positionen und Gruppen, die ich in den folgenden Kapiteln analysieren werde. Sein Haupt­antrieb ist auf jeden Fall der stillschweigende gemeinsame Schwur, alles so zu lassen, wie es ist und nicht härter zu fragen, nicht weiter zu denken, nicht tiefer zu forschen als alle anderen am System Beteiligten.

Das Rennnen

Eine solche Missachtung unserer tiefsten kulturellen Wurzeln wäre schon in anderen Zeiten schlimm genug. In der augenblicklichen, immer bedrohlicher werdenen Situation ist sie schlicht unverständlich.

Wir befinden uns in einem Rennen, das wir gewinnen müssen. Für uns, für unsere Nachkommen. Die beiden Boliden, die uns noch verblieben sind, der Kapitalismus und der Staat, haben einen gemeinsamen Crash hingelegt, worauf zuerst der weniger beschädigte – der Staat – den kaputteren abschleppt – die Wirtschaft – und dann zunehmend selbst auseinanderfällt. Wir haben sonst auf der Piste: Nichts.

Nun steht noch ein alter Rennwagen im Stall, von, sagen wir, 1935. Natürlich ist es völlig unklar, ob er überhaupt zum Laufen zu bringen ist, ob das mit vertretbaren Kosten zu machen ist, ob er eine Chance hätte usw. Aber wir müssen das Rennen gewinnen und dieser Wagen – das Christentum – hat schon unter Extrem­bedingungen Erstaunliches geleistet

Ja, es kümmern sich Leute darum, ein riesiges Team in tollen Mechaniker­-Overalls. Ja, es gibt dazu bunte Broschüren und Infoveranstaltungen. Aber wenn ich mich bis zu dem Rennwagen vorgedrängelt habe und sehe, dass er auf vier platten Reifen steht, dass sein Auspuff auf den Boden hängt und der achtjährige Neffe des Chefmechanikers mit einem Hammer im Motor herum­dengelt, dann kann es nur eine Reaktion geben:

So nicht. Nicht jetzt.

Und bevor irgend etwas besser werden kann, müssen wir das verstanden haben.

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